Gehört zur neuen Generation deutscher Radprofis: John Degenkolb Foto: ANP

Deutsche Radprofis kämpfen bei der Tour de France um Siege und Glaubwürdigkeit. Dabei ist ihnen klar, dass sie nur auf Bewährung fahren, meint Jochen Klingovsky, stellvertretender Leiter des Sportressorts.

Stuttgart - Wer sich mit John Degenkolb unterhält, der blickt in das Gesicht des neuen deutschen Radsports. Und er bekommt auch erzählt, dass nun alles anders ist. Mit sonorer Stimme, nettem Lächeln und sympathischem Blick. Degenkolb ist nicht nur ein erfolgreicher Profi, sondern auch ein eloquenter Junge. Sogar wenn es um das Thema Doping geht. Mit starkem Willen und harter Arbeit, sagt er dann, sei alles möglich. Und dass er froh sei, nicht mehr betrügen zu müssen, um erfolgreich zu sein. Das ist eine wohltuend klare Position in einer Sportart, in der Sieger automatisch unter Verdacht stehen.

Degenkolb gehört bei der Tour de France noch nicht zu den Gewinnern. Aber zu den Deutschen, die das Rennen prägen. Wie André Greipel, der zu drei Etappensiegen sprintete. Wie Tony Martin, der mit einem Solo-Erfolg ins Gelbe Trikot fuhr. Wie Simon Geschke, der in den Alpen auf die oberste Stufe des Podests kletterte. Die Tour de France 2015 ist eine Tour d’Allemagne – und das weckt Erinnerungen, die nicht nur positiv sind.

Das Problem der neuen Generation ist die Vergangenheit. Die Zeit, in der die Ullrichs und Zabels mit ihrem Telekom-Team eine in Deutschland nie gekannte Radsport-Euphorie entfachten. In der die ARD nach der „Tagesschau“ einen Brennpunkt über die Tour de France ausstrahlte. In der jeder zweite Freizeitradler auf Deutschlands Straßen ein magentafarbenes Trikot trug. In der die Profis zur Leistungssteigerung einwarfen, was eine gut sortierte Apotheke hergab. Und in der sie, nachdem alles aufgeflogen war, Doping damit rechtfertigten, ja niemanden betrogen zu haben. Es war der Totalschaden für den Radsport. „Die haben allen ins Gesicht gelogen“, sagt Degenkolb, in diesem Jahr Sieger der Klassiker Paris–Roubaix und Mailand–Sanremo.

Mit exakt den Worten, die heute wieder zu hören sind. Doping? Wir doch nicht! Kontrollen? Jederzeit! Das Peloton? Wird immer sauberer! Zweifel sind erlaubt, erst recht angesichts der Dominanz von Chris Froome und seinem Sky-Team bei der aktuellen Tour, die frappierend an Lance Armstrong und US-Postal erinnert. Oder angesichts der Tatsache, dass Ex-Doper wie Alexander Winokurow (Chef des Skandalteams Astana) immer noch mitdrehen am großen Rad.

Andererseits gibt es auch gute Zeichen. Nirgendwo wird mehr kontrolliert als im Radsport, die Werte der Profis sind in Blutpässen dokumentiert. Insider berichten davon, dass es mittlerweile wieder möglich sei, große Eintagesrennen auch sauber zu gewinnen. Dazu kommt ein psychologischer Aspekt. Früher wuchsen junge Radprofis ganz automatisch in ein betrügerisches System hinein, das ihnen am Ende nur zwei Alternativen ließ: mitmachen oder aufhören. Was das für ihre Sportart bedeutet hat, interessierte sie nicht groß – bis alles aufflog bei den großen Dopingskandalen. Den heutigen Profis aber ist bewusst, welchen Schaden Blutdoping in Freiburg, das Dopingsystem um Armstrong oder die Kunden von Dopingärzten wie Eufemiano Fuentes und Michele Ferrari dem Radsport zugefügt haben. Zu Recht beanspruchen sie eine neue Chance für sich. Aber sie wissen auch, wie wichtig es ist, diese zu nutzen – denn es ist die letzte für den Radsport. Nicht nur in Deutschland, wo es zuletzt sogar aufwärtsging.

Bei der aktuellen Tour läuft es nicht nur sportlich gut. Es sind wieder zwei Teams mit deutschen Sponsoren dabei, die ARD zeigt am Ende jeder Etappe Live-Bilder, die Fahrer freuen sich, nicht mehr in Sippenhaft genommen zu werden. Aber den Degenkolbs und Martins ist auch klar, dass sie auf Bewährung fahren. Alles steht und fällt mit der Glaubwürdigkeit der neuen Gesichter des Radsports.