Merkel ist an diesem Donnerstag zu ihrer Reise in die USA aufgebrochen. Bei ihrem Besuch wird es vor allem um die NSA-Affäre und die Ukraine-Krise gehen. Beides heikle Themen. Foto: dpa

Bundespräsident Joachim Gauck hat in der Türkei Klartext geredet – was aber tut Bundeskanzlerin Angela Merkel in Amerika? Ein Kommentar von Norbert Wallet.

Der Bundespräsident hat in dieser Woche Demokratiedefizite in der Türkei kritisiert – anlässlich seines Staatsbesuches, also auf türkischem Boden. Joachim Gauck wählte dazu klare, sehr harte Worten. So etwas gilt als ein flagranter Verstoß gegen die üblichen diplomatischen Gepflogenheiten. Schon deshalb ist Gaucks Signal des Aufmerkens wert. Die sich an seine Rede anschließende kontroverse Debatte ist es umso mehr.

Mit jedem kritischen Wort hat Gauck fraglos recht. Er mahnt an, dass es unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan unleugbar Versuche gibt, die Unabhängigkeit der Justiz einzuschränken und die Meinungsfreiheit zu beschneiden. Gauck sieht darin sogar eine Gefährdung der Demokratie. Hat er es also gut gemacht? Oder hat er überzogen? Durfte er überhaupt so sprechen – als Gast, als Staatsoberhaupt? Als Deutscher im Ausland?

Es gibt bei letzterer Frage zwei kursierende minderwertige Antworten. Eine kommt vom türkischen Ministerpräsidenten, die andere von Gauck selbst. Erdogan sieht in Gaucks Rede eine „Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Türkei“. Das ist ein beschämendes Argument. Eines, mit dem man Gauck nicht kommen kann. Denn der weiß genau, dass dieses Argumentationsmuster einst zum rhetorischen Rüstzeug der Kommunisten gehörte. Die wollten sich zu Zeiten des Kalten Krieges dadurch gegen westliche Kritik schützen, dass sie einen Bereich autonomen Regierungshandelns definierten, der ausländischer Kritik prinzipiell entzogen sei.

Einen solchen Bereich gibt es aber unter Demokraten nicht. Es geht um die Res publica, um öffentliche Angelegenheiten. Da darf sich jeder äußern, ohne Ansehen der Person. Es geht um die Richtigkeit des Arguments, nicht darum, wer es vorträgt. Abgesehen davon, dass sich Erdogan bei seinen Aufenthalten in Deutschland gleich gar nicht darum schert, wenn er seine wuchtigen Reden auf Türkisch vor türkischen Landsleuten und über deutsche Belange hält. Auch das ist ihm fraglos erlaubt.

Gauck selbst hat sich damit gerechtfertigt, dass er „unter Freunden“ geredet habe, schließlich seien beide Nationen durch die türkischen Migranten in Deutschland eng verflochten. Das stimmt zwar, ist aber kein Argument. Wenn das der springende Punkt wäre, hätte Gauck seine Rede – sagen wir – in Ungarn nicht gehalten. Dabei wäre sie gerade dort, von wem auch immer, längst fällig. Wenn es um die Gefährdung demokratischer Grundrechte geht, ist Einmischung Pflicht, genauer: ist Kritik gar keine Einmischung. Das hat mit der emotionalen Nähe oder Ferne von Nationen zueinander nichts zu tun.

Gauck durfte also reden, wie er geredet hat. Ob es immer klug ist, so zu reden, ist eine ganz andere Frage. Müssen etwa die Auftritte deutscher Politiker in China immer von einem öffentlichen Appell begleitet werden, die Menschenrechte zu achten? Das ist eine Klugheitserwägung. Gut möglich, dass hier mitunter eher stille Diplomatie das Mittel der Wahl ist. Die Türkei ist noch immer eine offene Gesellschaft. Da kann Gaucks Rede ein wirkmächtiger Impuls sein. China funktioniert – leider – anders. Darauf kann man sich zum Wohle der Menschen, denen man nützen will, einstellen.

Gauck hat einen Maßstab gesetzt. Er war tapfer vor dem Freund. Seit gestern weilt die Bundeskanzlerin in den Vereinigten Staaten – bei Freunden ohne alle Zweifel. Freunde indes, die ihre Partner in Sachen NSA empörend behandelt haben. Und behandeln. Das kann Angela Merkel übergehen, wenn sie es für klug hält. Oder sie könnte wie Gauck Tapferkeit vor dem Freund zeigen – weil es um die Verteidigung unser aller Grundrechte geht.

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