Statistiken und Zahlen können in ihrer Nüchternheit grausam sein. Im vergangenen Jahr traten 178 805 Katholiken in Deutschland aus der Kirche aus, 138 195 waren es 2012 in der Evangelischen Kirche.
Limburg - Statistiken und Zahlen können in ihrer Nüchternheit grausam sein. Im vergangenen Jahr traten 178 805 Katholiken in Deutschland aus der Kirche aus, 138 195 waren es 2012 in der Evangelischen Kirche. Zusammen sind das 317 000 Menschen – mehr als die Hälfte der Einwohner Stuttgarts. Die Austrittszahlen der Katholischen Kirche lagen um rund 50 Prozent höher als im Vorjahr. Damit sind sie fast genauso hoch wie im „Annus horribilis“, dem schrecklichen Jahr 2010, als ein Missbrauchsskandal nach dem anderen öffentlich wurde und insgesamt 181 193 Katholiken ihrer Kirche den Rücken kehrten. Im Bistum Limburg nahmen 2013 die Austritte sogar um 80 Prozent zu. In Rottenburg-Stuttgart wird die Gesamtzahl 2014 wohl höher liegen als 2013.
Was ist erstaunlicher? Dass 24,2 Millionen Katholiken und 24,3 Millionen Protestanten ihrer Kirche treu bleiben oder Hunderttausende Abschied nehmen? Die Frage ist berechtigt. Das Heidelberger Sinus-Institut hatte im Jahr 2011 eine Umfrage veröffentlicht, nach der eine Million Gläubige in Deutschland austreten wollten. Zusammen mit denjenigen, die über einen Austritt nachdenken, ergebe sich ein „Schwundpotenzial von mehr als fünfeinhalb Millionen“ hieß es. Selbst wenn man derartige Prognosen für alarmistisch und übertrieben hält, bleibt die Tatsache, dass beide großen Kirchen in Deutschland ausbluten. Mittlerweile sind die Konfessionslosen mit 36,6 Prozent die größte Bevölkerungsgruppe.
Viele halten die Kirchen nicht mehr für zeitgemäß, andere haben den Kontakt längst verloren. Ausgerechnet in der Diözese Limburg gibt man sich ahnungslos: „Wir kennen letztendlich die Gründe nicht, warum jemand aus der Kirche austritt“, sagte ein Sprecher des früheren Sprengels von Franz-Peter Tebartz-van Elst. Dabei ist gerade der impertinente Umgang des abgesetzten Limburger Bischofs mit dem Geld der Gläubigen für das Ansehen und die Finanzen der Kirche ruinös gewesen. Aber auch die Nachwehen der Missbrauchsskandale spielen eine große Rolle – genauso wie die Änderungen beim Einzug der Kirchensteuer auf die Kapitalertragsteuer. Ab dem 1. Januar 2015 wird die Kirchensteuer auch auf Kapitalerträge direkt einbehalten. Viele fühlen sich in ihrer Meinung bestätigt, dass die Kirchen ihre Gier nach Barem nicht stillen können. In der Sache liegen sie damit zwar grundfalsch (dies ist eine Entscheidung des Bundesfinanzministeriums und nicht der Kirchen), doch spielt das psychologisch keine Rolle. Hier gilt der berühmte Satz von Karl Marx umgekehrt: Das Bewusstsein bestimmt das gesellschaftliche Sein.
Gerade Katholiken fällt es – trotz eines allseits beliebten Papstes – schwer, an den Reformwillen der Kirche zu glauben. Viele Gläubige fragen sich schon lange, wozu sie überhaupt noch Kirchensteuer zahlen. Die Einschätzung des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, dass viele Ausgetretene „auf ihre eigene Art Christen bleiben“ wollten, ist kaum mehr als ein frommer Wunsch. Wer geht, hat genug von der real existierenden Kirche – egal, ob er sie wegen eines vermeintlichen großen oder kleinen Skandals verlässt. Manchmal bedarf es nur eines Tropfens – etwa einer 08/15-Beerdigungsansprache oder eines verpatzten Besuchs des Pfarrers –, um das Fass zum Überlaufen zu bringen.
Die Kirche müsse reagieren, fordert Kardinal Marx, „indem wir immer wieder versuchen, auf allen Ebenen Vertrauen zu schaffen durch gute und überzeugende Arbeit“. Die bisherigen Versuche waren offensichtlich wenig überzeugend. Der Schrumpfkurs wird weitergehen. Da helfen auch keine Durchhalteparolen und Vertröstungen auf bessere Zeiten.
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