Pro-palästinensische Demonstranten in Berlin: Kritik an Israels Militär- und Siedlungskurs hat Gründe – sie gehört deshalb nicht reflexhaft als antisemitisch diffamiert oder mundtot gemacht Foto: Getty

Kritik an Israels Militär- und Siedlungskurs hat Gründe. Sie gehört deshalb nicht reflexhaft als antisemitisch diffamiert oder mundtot gemacht. Die Hetzer aber gehören ausgegrenzt, meint unser Kommentator Wolfgang Molitor.

Stuttgart - Szenen, die nicht 2014, sondern 1938 zu spielen scheinen? Der Vergleich wird in diesen Tagen öfter gezogen, wenn über ausufernde Proteste gegen die israelische Offensive im Gazastreifen gestritten wird. Der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman klagt, in den Straßen Berlins seien Juden verfolgt worden – wie zu nationalsozialistischen Pogromzeiten.

Auch der Medienwissenschaftler Alexander Kissler steht mit seiner Einschätzung nicht allein, wenn er in diesem Zusammenhang behauptet: „Der Rücksturz in die Barbarei ist wieder eine Option.“ Mehr noch: Der israelische Geheimdienstminister spitzt die These weiter zu. Yuval Steinitz sieht einen neuen Antisemitismus in den politischen Zentren Europas heranwachsen und unterstellt denen, die sich im antiisraelischen Protest finden, „einen neuen Holocaust im Nahen Osten“ zu wollen. Doch die These wird auch dann nicht richtiger, wenn sie ständig wiederholt und eine Tragödie bemüht wird, die sich angesichts des unvergleichbaren nationalsozialistischen Schreckens verbietet – und sich deshalb als Übertreibung und politische Gegenpropaganda selbst entwertet.

Dieser Hauch einer inszeniert wirkenden Hysterie kann und darf jedoch nicht davon ablenken, dass es verwerflich und inakzeptabel bleibt, wenn sich Judenhetze auf Plätzen und Straßen Gehör zu verschaffen sucht. Denn zwischen dem Schüren von dumpfem Hass und einer besorgten Kritik gibt es wahrhaftig Riesenunterschiede. Auch deshalb ist es politische Pflicht, der auch in Deutschland oft gemeinsam von radikalen Moslems, Ultrarechten und Extremlinken verbreiteten kriminellen Meinungsmache entschlossen entgegenzutreten. Weil sie lupenreiner Antisemitismus auf dem Trittbrett öffentlicher Kriegsbetroffenheit ist. Das Entfachen von Pogromstimmung ist vom Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Der deutsche Staat ist gegen den Antisemitismus gewappnet, die Gesellschaft stabil genug, den Anfängen zu wehren.

Trotz aller Abscheulichkeiten, die sich in die Kritik an Israels kompromissloser Selbstverteidigungspolitik zu mischen versuchen: Wir sind nicht im Jahr 1933 oder 1938 – auch wenn es unmöglich ist zu bestreiten, dass es in Europa einen latent antisemitischen Bodensatz gibt. Er ist nicht selten migrationsgebunden und ähnelt jenem religiösen Fanatismus, dem in manchem islamischen Land Christen zum Opfer fallen.

Aber auch das ist nicht zu leugnen: Die Stimmung gegenüber dem Staat Israel verschlechtert sich. Auch in Deutschland. Die Bilder aus Gaza von zerstörten Häusern, überfüllten Krankenhäusern, verzweifelten Schutzschild-Zivilisten und toten Kindern haben sich in den Köpfen festgesetzt. Sie überlagern die Not der Israelis, lassen die permanente Existenzbedrohung des Landes gering achten, vernachlässigen das israelische Selbstverteidigungsrecht ebenso wie die blutige Mordgier des Hamas-Terrors. Der Starke hat es immer schwer, auf Verständnis zu stoßen, selbst wenn der Schwache mindestens genauso viel Schuld am Konflikt trägt. Herz und Verstand vertragen sich da nur schwer. Kritik an Israels Militär- und Siedlungskurs hat Gründe. Sie gehört deshalb nicht reflexhaft als antisemitisch diffamiert oder mundtot gemacht. Die Hetzer aber gehören ausgegrenzt. Verdammt, verboten und bestraft.

w.molitor@stn.zgs.de