Ein bayrischer Polizist sichert mit einer Maschinenpistole bewaffnet den Tatort des Sprengstoffanschlags in Ansbach. Foto: AP

Der Amoklauf von München und die Terroranschläge von Würzburg und Ansbach fordern uns alle dazu auf, über die Gesellschaft nachzudenken, in der wir leben, kommentiert Franz Feyder.

Stuttgart - Haben Sie schon das Smiley in Ihrem Facebook- und Twitterprofil verändert? Vom gelb lächelnden Gesicht in ein schwarz-rot-gelbes, dem eine Träne über die Wange kullert? Haben Sie das Bildchen mit der Münchener Frauenkirche, der Ansbacher Residenz oder der Würzburger Marienfestung hinterlegt, um Trauer über den Amoklauf und die Terroranschläge der vergangenen Tage auszudrücken. Dann haben Sie genug getan! Dann kann es ja weitergehen. Wie immer – trotz der 55 Verletzten und zwölf Toten der vergangenen Woche.

Warum sollte sich etwas ändern, wo sich die Erde doch auch nach den Attentaten in Paris, Nizza und Brüssel weiterdrehte: mit ein paar Polizisten mehr, ein paar neuen Gesetzen, ein wenig mehr internationaler Zusammenarbeit. Dabei haut uns die europäische Polizeibehörde Europol jetzt die eigentlichen Fakten um die Ohren: Jeder dritte Attentäter, für die wir das Wort „einsamer Wolf“ erfunden haben, ist psychisch erkrankt. Jeder der zehn jugendlichen deutschen Amokläufer der vergangenen 15 Jahren war depressiv. Bei einem Drittel der aus der EU auf die Schlachtfelder des Mittleren Ostens ausgereisten Dschihadisten wiesen die EU-Ermittler psychische Probleme nach – offiziell kommen mehr als 780 dieser Kriegsreisenden aus Deutschland. Seelische Krankheitsbilder sind die zweithäufigste Diagnose, wenn Ärzte heute ihre Patienten krankschreiben.

Kaum eine Reaktion auf solche Zahlen! Zwar machen sich Kinder, Jugendliche und Bildung immer dann gut, wenn Parteien Wahlprogramme formulieren. Spätestens aber, wenn diese in den Haushaltsberatungen politische Realität werden, bleiben marode Schulfenster weiter geschlossen, anstatt sie zu reparieren. Werden Vertretungslehrer zu den Sommerferien in die Arbeitslosigkeit entlassen. Werden Pfarrheime verkauft oder vermietet, statt ihre Türen für Jugendarbeit zu öffnen. Da werden Jugendliche in acht Jahren zum Abitur gehetzt, nur damit sie sich dann in endlosen Praktikantenschlangen wiederfinden – oder sich selbst im notwendig gewordenen Sabbatjahr.

Zuerst aber ist es unser aller Aufgabe, den Slogans „Kinder sind Zukunft“ und „Bildung ist die wichtigste Ressource Deutschlands“ Leben einzuhauchen. Dazu gehört zuvorderst: Kinder werden von ihren Eltern erzogen! Und dann erst von Erziehern, Lehrern und Sozialarbeitern. Wer heute Trauergesichter in sein Facebook-Profil packt, muss sich die Werte bewusst machen, die er seinen Kindern vermitteln will. Der muss täglich Zeit für mindestens eine gemeinsame Mahlzeit mit der Familie haben. Wer sich über die immer erfolgreichere Propaganda des Islamischen Staats aufregt, der muss dieser billigen Rattenfängerei eine Debatte darüber entgegensetzen, was unsere Gesellschaft in Zukunft ausmachen soll. Der muss für und über soziale Gerechtigkeit streiten. Und darüber, was uns Bildung, Familien, Kinder und Senioren heute und morgen wert sind. Und darüber, was nicht so viel wert ist.

Wem das zu umständlich, zu unbequem ist, dem bleibt zwischen künftigen Bluttaten wie denen in München, Ansbach und Würzburg genug Zeit, immer neue Trauersmileys zu entwerfen. Er wird den Nachschub brauchen.

franz.feyder@stuttgarter-nachrichten.de