Das Fehlverhalten Einzelner in Pfullendorf darf nicht dazu führen, das Gros der Soldaten zu verurteilen, meint unser Autor. Foto: Getty Images Europe

Für Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen sind die Exzesse in der Pfullendorfer Ausbildungskaserne ein Gau, meint Matthias Schiermeyer.

Pfullendorf - Die Empörung ist – wieder einmal – enorm: Die Exzesse in der Ausbildungskaserne der Bundeswehr in Pfullendorf stehen in einer unrühmlichen Reihe mit früheren Skandalen in Mittenwald, Zweibrücken, Coesfeld oder Hammelburg. Überall wurden Soldaten von Kameraden oder Vorgesetzten drangsaliert. Allerdings liegen zwischen all diesen Fällen 20 Jahre. So fragt sich: Hat sich das Verhalten in der Truppe seither nicht grundlegend geändert? Hat das Prinzip der Inneren Führung nicht zu einem Gesellschaftsbild beigetragen, das auf Respekt vor dem Mitmenschen setzt?

Das Fehlverhalten Einzelner darf nicht dazu führen, das Gros der Soldaten zu verurteilen. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, ob die Bundeswehrleitung mit ihren Anforderungen der Inneren Führung stets bis an die Basis durchdringt. Niemand kann sicher sein, dass nicht bald weitere vergleichbare Fälle auftauchen.

Vorgesetzte, die darüber hinwegsehen, sind mitschuldig

Derlei Rituale gibt es seit jeher in der Bundeswehr. Vielfach waren sie schon immer abstoßend und überflüssig. Das Maß ist voll, wenn sie in bizarre Sexualpraktiken oder andere Misshandlungsfälle ausarten – gleichgültig, ob Betroffene dem Gruppendruck gehorchend mitmachen oder nicht.

Dass sich so etwas nicht herumspricht unter Vorgesetzten, ist zumindest schwer vorstellbar. Besonders verwerflich wäre es daher, wenn Ausbilder die sogenannten Aufnahmerituale unter den Kampfsanitätern – einer selbsternannten Elite – mitbekommen, aber großzügig darüber hinweg gesehen hätten. Dann trügen sie eine wohl auch strafrechtlich relevante Mitschuld. Mangelnde Fähigkeit und Unwillen zur Dienstaufsicht schützt keinen Vorgesetzten davor, zur Rechenschaft gezogen zu werden, weil er für die Disziplin seiner Soldaten verantwortlich ist.

Es ist aber auch denkbar, dass Führungskräfte – in diesem Fall des Ausbildungszentrums – mittlerweile derart mit der Verwaltung und bürokratischen Abläufen eingedeckt sind, dass sie kaum noch dazu kommen, sich um ihre Soldaten zu kümmern. Dann müsste die Bundeswehr auch an dieser Stelle über prinzipielle Konsequenzen nachdenken.

Botschaft des „Sex-Workshops“ konterkariert

Für Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen ist das Bekanntwerden der Exzesse ein besonders schmerzhafter Vorgang, will sie doch am kommenden Dienstag einen Workshop zum „Umgang mit sexueller Identität und Orientierung in der Bundeswehr“ abhalten. Wie notwendig das Gespräch mit den Soldaten ist, zeigt sich nun eindrucksvoll. Doch wird die Botschaft von der Leyens, dass die Streitkräfte auf dem Weg zu einem Arbeitgeber seien, der die Toleranz für sexuelle Randgruppen stärke und sich mehr für Minderheiten öffne, nun völlig auf den Kopf gestellt. Vielmehr müsste die Ministerin sich erst einmal des dringenden Verdachts erwehren, dass in der Bundeswehr noch lange nicht die gesellschaftliche Normalität eingezogen ist, die sie auf der Nachwuchssuche so gerne vorgibt.

Der Skandal von Pfullendorf konterkariert ihre Bemühungen in besonderem Maße. Überzogenes Männlichkeitsgehabe muss junge Bewerber, zumal Frauen, abschrecken. Dass die öffentliche Reaktion der Ministerin offenbar erst unter dem Druck von Medienveröffentlichungen so scharf ausgefallen ist, irritiert umso mehr.