Mia Gray in Tracht Foto: pro Stuttgart

Die Geschichte muss umgeschrieben werden. Die Schriftgelehrten glaubten bisher, die Volksfestwirte hätten den Schwaben das Trinken in Tracht beigebracht. Doch beim Weindorf beharrt man darauf: Das waren wir! Und legt jetzt sogar mit einer City-Tracht für den Viertelesschlotzer nach.

Stuttgart - Da hätten wir besser das Maul gehalten. Seit Jahrzehnten fordern wir Schwaben: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus!“ Doch wer konnte ahnen, dass wir das speckige, ranzige Zeugs auftragen sollen. An die bayerische Vorherrschaft beim Fußball haben wir uns gewöhnt, dass es beim Volksfest mittlerweile aussieht wie bei einem Regionaltreffen der CSU, geschenkt, aber beim Weindorf hätt’ man doch gerne Ruh’ vor dem Nachbarn. Doch die Veranstalter des Bürgervereins Pro Stuttgart haben heuer extra eine „City-Tracht“ gestaltet. Gemeinsam mit der Firma Krüger Dirndl aus Wernau will man den Weintrinker jetzt auch in eine Lederhose (knapp 200 Euro) zwingen. Für die Dame darf’s ein Mieder (84,95 Euro) sein. Ein sehr blümerantes. Kein Dirndl. Denn wie sagt Axel Grau, Geschäftsführer von Pro Stuttgart: „Wir wollten keine Uniform haben, sondern etwas Modernes, Urbanes.“ Also eine „City-Tracht“. Grau: „Denn wir sind nicht in Österreich und Bayern, sondern man feiert und festet in der Stadt.“ Der Städter trägt also Kleinkariert und Lederhose. Stuttgart ist offenbar doch ein großes Dorf.

Kostümiert wie ein Bauer beim Landgang

Es ist dies nicht der erste Vorstoß, auf dem Weindorf den Landhaus-Schick zu etablieren. Im Vorjahr gab’s erstmals eine offizielle Weindorf-Tracht. „Anita“ hieß das Modell, war so eine Art bunte Küchenschürze. Präsentiert wurde sie von dem früheren Playmate Mia Gray. Vielleicht lag’s ja daran, dass „Anita“ kein besonders großer Erfolg war, ist Mia Gray doch eher fürs Ausziehen als fürs Anziehen bekannt. Doch die Herren und Damen von Pro Stuttgart geben nicht auf.. Womöglich fühlen sie sich ja von der Geschichte betrogen. Denn bisher geht in der Stadt die Legende, dass Wasenwirt Hans-Peter Grandl den Trachtenwahn ausgelöst hat. Wer sich kostümierte wie ein Bauer beim Landgang kam bei ihm noch ins Zelt, wenn kein anderer mehr rein durfte. Stimmt nicht, sagt Grau. Angefangen hat alles auf dem Weindorf. Dort hätten die Wirte und die Wirtinnen schon immer Tracht getragen, also seit 39 Jahren. Und da ist man zu der Zeit aufs Volksfest im Rüschenhemd und in Schlaghosen gekommen. Wer mal darauf achtet, der wird beim Weindorf sehen, dass so mancher Wirt die einzige wahre Wengertertracht trägt: das blaue Küferhemd. Da kann man drin Reben schneiden und lesen, Trauben stampfen und Fässer putzen – und man sieht keinen Fleck. So eine Tracht braucht der Schwabe, net verspielt, aber praktisch.

Einstmals durften die Bauern in Württemberg ja nur das tragen, was sie selbst herstellen konnten. Herzog Eberhard Ludwig hatte das 1712 verfügt. Er hatte eine Kleiderordnung erlassen, teilte seine Untertanen in neun Klassen und bestimmte, was die Bauern als neunte und unterste Klasse tragen durften. Und das war nur das, was sie mit ihren Händen produzieren konnten: aus Leinen, Wolle, Pelz und Leder. Anderswo sah das nicht viel anders aus. Doch nach dem Wegfall der Ständeordnung entdeckte der Adel das Landleben, romantisierte es und zeigte sich in aus allen Ecken zusammengeklaubter Bauerntracht. Das war die Geburt der Folkloremode. Und dann tauchte Silvia Sommerlath auf. Sie weckte anno 1972 den Wunsch, sich zum Biertrinken zu verkleiden. Die Hostess becircte bei den Olympischen Spielen in München im Dirndl den schwedischen Prinzen Gustav und überzeugte ihn, sie zu zur Königin zu machen. Fortan war alle Welt überzeugt: Zum Oktoberfest gehört die Tracht. Dabei war und ist die richtige Tracht viel zu schade und zu teuer fürs Bierzelt, die trägt man zur Hochzeit und allenfalls zum Kirchgang. Mittlerweile geht der Trend beim Volksfest ja ohnehin zum Einwegdirndl. Eine Partyklamotte, die man billig kauft, daher mit allerlei Körperflüssigkeiten und Alkohol verschmiert und nach Gebrauch wegwirft. Das wird’s beim Weindorf allerdings nicht geben. Erstens ist der Wein zu teuer zum Verschütten, und zweitens ist das wichtigste Kleidungsstück ohnehin: die Sonnenbrille.