Karl Maria Brandauer ist Schirmherr der Stuttgarter Stimmtage Foto: dpa

Gellende Schreie oder sanftes Säuseln – die Stimmführung kann gewaltig sein. Um den Gebrauch des Sprechapparats geht es bei den Stuttgarter Stimmtagen, die Klaus Maria Brandauer vor etlichen Stadt-Vips fulminant eröffnet hat. Der Stimm-König begeisterte – und beschimpfte am Ende einen Fotografen.

Stuttgart - Wer hat mitgezählt? Die Wissenschaft jedenfalls hat’s herausgefunden: Mit 16 000 Wörtern teilt sich der Mensch tagtäglich im Schnitt seiner Umwelt mit. Die Stimme kann stark oder brüchig sein, dunkel oder piepsig. Und wie erstaunt wir sind, wenn wir unsere eigene Stimme in einer Aufnahme hören: Das soll ich wirklich sein?

Bei der Wahl geben die meisten sie ab, doch nur wenige erheben sie. Der Stimme des Herzens sollen wir folgen und auf unsere innere Stimme hören. So oder so - immer gewährt die Stimme einen Einblick in das Innere des Menschen.

Für die elften Internationalen Stimmtage, veranstaltet von der Akademie für das gesprochene Wort in der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst sowie im Opernhaus, ist der Acker breit, der Kulturboden fürwahr prächtig, um ihn mit Workshops zu Themen wie „Multifunktionsmundkunst“ und „Handelndes Sprechen“, mit Vorträgen und Aufführungen bis Montag zu durchpflügen. Sehr viele Experten, wie schön, stimmen mit ein! Slam-Poeten ebenso wie Sprach-Professoren.

„Brandauers Charisma ist einzigartig“

Schirmherr ist einer der Stimmgewaltigsten im deutschsprachigen Raum, zu dessen größten Kinorollen der „Mephisto“ im Oscar-prämierten Film von István Szabó gehört: Weltstar Klaus Maria Brandauer hat viel mehr als eine gute Stimme. Ohne Vorrede setzt sich der 73-Jährige im ausverkauften Konzertsaal der Musikhochschule an einen Holztisch, an der Seite seines Pianisten Arno Waschk, und moduliert in seiner Lesung „Faust, … ein gefesselter Prometheus?!“ Texte von Goethe, Heinrich Heine, Thomas Mann und Hans Magnus Enzensberger durch viele Simmlagen.

Mal klingt der brillante Rezitator feierlich, mal bricht sich berserkerhaftes Temperament mit diabolischem Kichern Bahn – aber immer ist seine Lesung ergreifend, verlangt von ihm und von seinem Publikum höchste Konzentration. Meist ist es mucksmäuschenstill. „Brandauers Charisma ist einzigartig“, schwärmt Opernintendant Jossi Wieler später im Foyer, wo sich die Gäste bei Wein von der teuflischen Kost erholen und das Gehörte besprechen.

Von der Mainau reiste Graf Björn Bernadotte an, ein großer Fan des Künstlers. Eigens aus Berlin ist der CDU-Bundestagsabgeordnete Stefan Kaufmann eingeflogen und hat dort einige Termine sausen lassen. Im Publikum außerdem gesehen: der katholische Stadtdekan Christian Hermes, der frühere Staatssekretär Matthias Kleinert, die Modedesignerin Lissi Fritzenschaft, die Professorin Uta Kutter, die von 1969 an den Fachbereich Sprechen an der Hochschule geleitet hat und 1993 die Akademie für das gesprochene Wort ins Leben rief.

„Herr Brandauer ist dünnhäutig“

Im Foyer rätseln die Gäste, ob es von dem stürmisch umjubelten Rezitator klug war, am Ende der Lesung einen verdatterten Fotografen vor dem gesamten Publikum zu beschimpfen und ihn bloßzustellen, weil ihm dessen „Klick, klick, klick“ gestört habe. „Die Reaktion zeigt, dass Herr Brandauer dünnhäutig ist“, meint Intendant Wieler, dem etliche zum Opernhaus des Jahres gratulieren. Der Fotograf – die Veranstalter haben ihn engagiert – versichert, dass er zuvor mit dem Künstler abgesprochen habe, erst beim zweiten Schlussapplaus mit dem Fotoapparat in den Saal zu kommen. Daran habe er sich gehalten. „Hätte ich keine Fotos gemacht und wäre Brandauer nicht im nächsten Programmheft, hätte er sich auch beschwert“, sagt der Fotograf.

1962 kam der Österreicher nach Stuttgart als Schauspiel-Absolvent der Kunsthochschule. Kulturmanagerin Brigitte Stephan war dort künstlerische Assistentin. Brandauer fiel ihr sofort auf. Sie kennt ihn seit Jahrzehnten „ohne Starallüren“. Längst ist die „Big Mama der Kultur" befreundet mit ihm und weiß, wie herzlich er mit seiner Umgebung umgeht. Drei Tage hat sie ihn nun in Stuttgart begleitet. Auf der Bühne sei er ein Perfektionist, der sich mit den Texten auf einem „Trip“ befände, bei dem ihn die kleinste Störung aus der Konzentration bringen könne. Bitte husten Sie jetzt nicht! Knistern Sie nicht mit dem Bonbonpapier!

Später kommt der Ausnahme-Schauspieler ins Foyer, strahlt und gibt wie ein guter Kumpel vielen die Hand. Das Stimmengewirr kann ihn nun nicht mehr stören.

Die Stimme hängt meist von der Stimmung ab. Nichts ist so langweilig wie eine scheinbar perfekte Stimme. Die Person muss durchklingen, ihr Charakter – so wie bei dem großen Brandauer. Während bei Männern die Stimme im Alter eher hoch geht, geht sie bei Frauen nach unten. Als sie „Kohls Mädchen“ war, sprach Angela Merkel wesentlich höher als heute als Kanzlerin. Die Stimmauszählung der Stimmtage kann vieles an den Tag bringen.