Wer Zeit hat, kann diesen Sommer wohl so günstig wie nie zuvor Deutschland kennenlernen. Das Experiment ist eine Chance für alle – auch für mehr Klimafreundlichkeit, schreibt unsere Kolumnistin Siri Warrlich.
Leute, in sechs Wochen sind Pfingstferien. Vergesst Malle oder Kreta, vergesst den Stau. Dieses Jahr gibt’s was Besseres – hoffentlich. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich für Juni, Juli und August ein Sabbatical anmelden. Kreuz und quer soll man in diesen Monaten durch die Republik reisen können, von Ost nach West, von oben nach unten, sooft man will – für 27 Euro. Das ist kein Druckfehler. Rentner müsste man sein in diesem Sommer.
Heute abend Weißwein schlürfen auf Sylt?
Das Neun-Euro-Ticket, so zumindest der Plan, soll drei Monate lang nicht nur im Nahverkehr der Städte gelten, sondern auch im Regionalverkehr der Deutschen Bahn. Bundesweit.
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Heute Abend Weißwein schlürfen auf Sylt, wie wär’s? Wer sich morgens um halb sechs in Stuttgart in den Zug setzt, kann es schaffen. Regionalverkehr für Fortgeschrittene. Man kommt sogar in Uelzen vorbei. Da gibt es schönes Fachwerk (sagt Google). Das könnte eine Übernachtung wert sein, Sylt müsste dann halt einen Tag warten. Stuttgart–Leipzig geht mit nur einem Umstieg. Drei Stunden später wartet schon Bad Schandau, Wandern in der Sächsischen Schweiz. Das 9-Euro-Ticket als Bahncard 100 light, erschwinglich für alle.
Pro Bahn warnt vor übervollen Bahnen auf touristisch beliebten Strecken
Zur Einordnung: Für neun Euro kommt man normalerweise mit der Bahn nicht mal von Stuttgart nach Heilbronn. Wer Zeit hat und sich ein Zelt einpackt, kann diesen Sommer wohl so günstig wie nie zuvor Deutschland kennenlernen.
Richard Lutz sollte über Pop-up-Bistros in Regionalzügen nachdenken. Ein kaltes Getränk zwischen Fürstenfeldbruck und dem Ammersee wäre das Sahnehäubchen auf dem Interrail-in-Deutschland-Experiment. Verpflegung im Nahverkehr könnte auch die Gemüter kühlen, falls der Platz eng wird. Der Fahrgastverband Pro Bahn warnt vor übervollen Bahnen auf touristisch beliebten Strecken.
Besonders für Schwaben ein Anreiz
Das 9-Euro-Ticket ist aber nicht nur aus Gründen der individuellen Reiselust eine gute Idee. Das Experiment ist eine Chance für alle. Wer im Nahverkehr mit der Bahn fährt, anstatt das Auto zu nehmen, stößt 44 Prozent weniger Treibhausgase aus. Und Einsparungen sind dringend nötig, nicht nur um von russischen Energie-Importen unabhängiger zu werden. Der Verkehrssektor verursacht nach wie vor ein Fünftel des CO2-Ausstoßes in Deutschland. Der größte Teil davon kommt nicht vom Gütertransport – sondern von Pkw. Bis 2030 müssen die Emissionen im Verkehr verglichen mit 1990 um fast die Hälfte sinken, damit Deutschland seine Klimaziele erreicht, sprich: damit das Leben auch nur annäherungsweise so bleibt, wie wir es heute kennen.
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Aber dafür mit der Stadtbahn fahren? Nee, heute nicht. Zu umständlich, zu langsam, zu unbequem, heißt es oft. Es ist nicht einfach, Routinen zu verändern. Genau deshalb ist das 9-Euro-Ticket so eine große Gelegenheit. Ganz besonders für Schwaben bietet es den Anreiz, endlich mal etwas anders zu machen.
Länder kritisch
Umso trauriger wäre es, wenn der geplante Start zum 1. Juni verhagelt würde. Zwischen Bund und Ländern, aber auch innerhalb der Ampelkoalition gibt es Streit über die Finanzierung. Im Vorfeld hieß es, das Ticket werde wegen Mindereinnahmen der Verkehrsbetriebe 2,5 Milliarden Euro kosten, und der Bund werde die Kosten übernehmen. Insgesamt will der Bund laut einem Gesetzesentwurf des Verkehrsministeriums Mittel für die Bundesländer zur Finanzierung des Nahverkehrs dieses Jahr um 3,7 Milliarden Euro erhöhen, das Geld für das Ticket inklusive.
Die Länder kritisieren, dass das Gesamtpaket bei Weitem nicht ausreiche. Sie fordern zusätzlich 1,5 Milliarden Euro, um etwa die gestiegenen Energiepreise zu kompensieren. Dieses Geld ist im Entwurf allerdings nicht enthalten. Folglich würden für die Umsetzung des 9-Euro-Tickets dann keine ausreichenden Mittel mehr zu Verfügung stehen, sagt der verkehrspolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion Stefan Gelbhaar.
Bundestag und Bundesrat sollen Mitte Mai abstimmen
Die Zeit, um den Streit zu lösen, ist knapp. Laut dem Fahrplan einer Arbeitsgruppe sollen Bundestag und Bundesrat Mitte Mai den notwendigen gesetzlichen Änderungen zustimmen, damit das 9-Euro-Ticket zum 1. Juni starten kann.
Es gibt da aber auch noch eine ganz andere Sache, die Bundesverkehrsminister Volker Wissing womöglich nicht bedacht hat. Haben Busfahrer, die das Ticket verkaufen sollen, genug 1-Euro-Münzen? Sonst droht das Ticket am Ende noch an ähnlichen Mangelerscheinungen zu scheitern wie die Idee für ein vorübergehendes Tempolimit.