Bereits draußen vor dem Gebäude kommt man ins Staunen. Foto: IMAGO///Sebastien Fremont / Starface

Im Winterzirkus Paris trifft man auf etwas, das es in der französischen Hauptstadt nur noch selten gibt – unsere Kolumnistin Anna Katharina Hahn über die Verzauberung jenseits touristischer Pfade.

Es riecht nach Popcorn im Dämmer des Riesenraumes. Golden schimmern die geflügelten Pferde über den Eingängen, die Lichter an der Decke, die Tressen an den Uniformen der Platzanweiserinnen. Der kleine Junge vor mir sitzt zwischen seinen Eltern in der Loge, die beiden lächeln sich über seinen Kopf hinweg zu, doch er kann seine Skepsis nicht verbergen. Auf dem Rand der Manege balanciert ein seltsamer Kerl, der ihn ins Auge gefasst hat und winkt, als habe er gerade einen alten Freund entdeckt.

 

Matuté, der Clown, trägt gelbe Kniestrümpfe und Hosenträger zu Tangoschuhen, seine dunklen Augen glänzen, er bewegt sich wie der Tänzer, der er ist, und wenn er merkt, dass sich Kinder vor ihm fürchten, so wie der Bub aus der Loge, sucht er sich einen Erwachsenen aus, einen weihnachtsmüden Familienvater in der ersten Reihe, und fängt an, zärtlich dessen Haar zu streicheln, danach die auf der Armlehne des gottergeben neben Frau und Kindern sitzenden Mannes liegende Wollmütze. Seine Aufdringlichkeiten begleitet der Clown mit freundlichen Schnalzlauten. Die Mütze gibt erst ein lautes Schnurren von sich, wird dann plötzlich wild, faucht und kreischt, um Matuté schließlich in die Hand zu beißen und erschrocken das Weite suchen zu lassen. Jetzt lacht auch der Kleine.

Triumphe menschlicher Geschicklichkeit, Schönheit und Tollkühnheit

„Délìre“, so heißt die Show, hat noch nicht begonnen, weiter strömen Leute auf ihre Plätze zur ersten von drei Vorstellungen des Tages. Weihnachten ist vorbei, das neue Jahr hat begonnen, und im Pariser Winterzirkus, dem Cirque d’Hiver, fängt die Verzauberung bereits draußen vor dem Gebäude an. Ausgerechnet ein in Paris lebender Kölner Architekt errichtete 1841 das puddinggelbe Prachtstück mit den 20 Ecken, das zu den ältesten Zirkusgebäuden der Welt gehört.

Familie Bourglione bespielt und besitzt den Cirque d’Hiver seit 1934. Die Ahnfrau der Dynastie ließ sich mit ihrem Mann im Raubtierkäfig trauen. Mittlerweile gibt es noch zwei Tiernummern im Programm – Régina Bourglione auf einem Schimmel, der tanzt wie eine Ballerina, ohne dass ein einziges Mal von der Gerte Gebrauch gemacht wird, dazu Professor Ermakow und seine Hundeakademie – die Tiere schlagen Purzelbäume und laufen auf den Hinterbeinen, sichtlich bemüht, ihrem Meister zu gefallen, sichtlich geliebt und belohnt.

Es sind Triumphe menschlicher Geschicklichkeit, Schönheit und Tollkühnheit, die die jungen Artistinnen und Artisten mit sichtlichem Stolz und großer Begeisterung zeigen – Zirkuskunst vom Feinsten. Vor allem sieht man im Winterzirkus Paris jenseits seiner Musealisierung und touristischen Ermüdung, in dieser augenzwinkernden, eleganten, oft selbstironischen Aufführung ebenso wie im Publikum, das fast nur aus Parisern besteht, für die der Besuch dort zur Tradition ihrer Stadt gehört.