Grabpflege als Auseinandersetzung mit sich selbst und der Familie: Unsere Kolumnistin Anna Katharina Hahn gibt Einblicke.
Die Gutsledosen sind fast leer. Zwei rissige Marzipankugeln kullern unter dem Seidenpapier hervor, sie schmecken nach dem Geist der vergangenen Weihnacht und hinterlassen Kakaostaub auf den Fingerspitzen. Der Christbaum verliert die ersten Nadeln. Auf dem Tisch liegt ein Kalenderbuch für 2025. Hie und da habe ich Termine in diesen unerschlossenen Freiraum zukünftiger Wochen und Monate eingetragen: Geburtstage, Veranstaltungen, Gedenken, Pläne. Ich lasse die Kante des Kalenders an meinem Daumen entlanglaufen, das dauert etwas länger als ein Wimpernschlag.
Das Kreuz verbiegt sich
Über dem Grab meines Vaters liegt der weiche Dämmer des Winternachmittags, nur die Kälte fehlt. Als ich beginne, die Lavendelbüsche zu kürzen, Nussschalen und Ahornnasen aus dem Immergrün zu klauben, fange ich an zu schwitzen, muss meine Jacke ausziehen. Ich hänge sie über den Stein. Entschuldigt bitte, Urgroßeltern Alfred und Mina. Schwer und feucht fallen Erdbrocken von meinem lächerlichen Minispaten, ein richtiges Großstädterinnengerät, das aber seinen Zweck erfüllt, denn bald habe ich eine ganze Schar kleiner Zwiebeln im gelockerten Boden versenkt. Gelbe Wildtulpen, garantiert bio, verspricht das Etikett. Der Sargnagel hat sich nicht eingestellt – ein dicker, rostiger Kerl, den ich jedes Mal erneut ausbuddle, wenn ich hier etwas pflanze. Ich nehme ihn als Gruß meiner Vorfahren und bin fast enttäuscht, als er heute ausbleibt.
Beim Anzünden der Kerze rutschen meine nassen Finger vom Rädchen des Feuerzeugs ab, leise fluchend bemühe ich mich weiter. „Joggen – 0 Personen gefällt das“, steht darauf. Ich muss grinsen, mein älterer Sohn hat es bei uns vergessen. Ich denke daran, dass mein Vater ein starker Raucher war und erst damit aufhörte, als ich zur Welt kam, daran, dass unsere beiden Söhne rauchen und mich das ärgert. Als ich das rote Licht in sein Häuschen bugsieren will, verbrenne ich mich, lasse mit einem Schrei alles fallen. Das Kreuz auf dem Dach verbiegt sich, die kleine Tür geht auf, die Flamme verlöscht.
Zum Abschied ein Lächeln
Verdammt! Seufzend richte ich mich auf und strecke mich, gehe zum Brunnen vor der Kapelle. Die Reling, an der sonst eine Reihe giftgrüner Gießkannen hängt, glänzt nackt und kahl. Natürlich, das Wasser ist abgestellt. Mit verkrusteten Schmutzpranken gehe ich zurück zum Grab. Ach Papi. Als die Kerze endlich sicher untergebracht ist und leuchtet, ist die Sonne untergegangen. Ein junger Mann tritt auf den Weg, in seiner Hand eine weiße Kerze, dick wie ein Kinderarm, bittet um Feuer.
Behutsam schirmt er die zitternde Flamme gegen den Wind ab, wir lächeln einander zum Abschied zu. Auf der mageren Gingkoallee gehe ich in Richtung Krematorium. Ein Großvater mit Enkel kommt mir entgegen, der Junge liest langsam und konzentriert die Namen auf den Grabsteinen vor, zahllose Lichter in der Dunkelheit.