Die digitale Knopfdruckmentalität führt zu analoger Ungeduld und zur Angst, etwas zu verpassen, findet unser Kolumnist, wenn er sich gerade nicht bei Social Media verliert.
Stuttgart - Die Digitalisierung hat uns arme Sünder grundlegend verändert. Seit im Netz alles auf Knopfdruck verfügbar ist – das neue Buch, die dicke Jacke, eine wärmende Ramen-Suppe aus Hamburg – hat sich diese Knopfdruckmentalität ins analoge Leben übertragen.
Die Ungeduld wächst. Wer wartet in einem Chat zum Beispiel noch geduldig auf eine Antwort? Nichts ist schlimmer, als den berühmten drei Punkten zuzusehen, die jene Zeit überbrücken, in denen das Gegenüber seine hegelgleichen Gedanken sortiert und eine Antwort formuliert hat.
Auf der Suche nach dem Ausknopf
Schneller, bitte, hüpft schneller, ihr Punkte! Die Höchststrafe: Wenn die drei Punkte auf einmal wieder verschwinden, ohne dass eine Antwort hinterlassen wurde. Hat uns das Gegenüber verlassen? Hat der Dialogpartner Besseres zu tun? Wäre die Antwort unverschämt ausgefallen? Gegen so viel Ungewissheit hilft nur eins: Das eigene Reptiliengehirn schnell mit ein paar ziellosen Ausflügen in digitale Welten ablenken.
Dabei findet man den Ausknopf nicht mehr. Da will man kurz, wirklich nur ganz kurz, diese eine Sache auf Twitter „recherchieren“, und Zack, ist schon wieder eine Dreiviertelstunde rum. Hat diese verlorene Dreiviertelstunde am Abend stattgefunden, ist an Schlaf danach nicht mehr zu denken, weil die Synapsen durch endloses Scrollen in die Tiefe komplett überhitzt sind.
Verloren zwischen Cookies und Pushnachrichten
Da muss doch noch ein witziger Gag, eine unerhörte Neuigkeit kommen, kreischt der frontale Cortex, während die traurigen körperlichen Überreste endlich schlafen wollen. Noch schlimmer als beim Zappen kurz nach Erfindung des Farbfernsehens.
Zwischen den einzigen zwei brauchbaren Gedanken des Tages immer neuen Input im Netz serviert zu bekommen, sorgt zwangsläufig dazu, dass der zweite Gedanke schneller wieder vergessen ist, als man „gefällt mir“ klicken kann. Ähnlich läuft der Besuch einer Website im Jahr 2022 ab: Bis man alle Cookies ausgewählt und Pushnachrichten abgelehnt hat, weiß man oft nicht mehr, wieso man die Seite eigentlich besucht hat.
Neue Krankheit: „Fear of missing out“
Die permanente Suche nach Neuigkeiten oder nach einer Selbstbestätigung in Form von albernen Herzchen und anderen digitalen Dopamin-Dosen hat zu einer neuen Krankheit geführt: der sogenannten „Fear of missing out“, abgekürzt „FoMo“, auf Deutsch „Die Angst, etwas zu verpassen“. Die drückt sich aus im pausenlosen Eintauchen ins Bermudadreieck zwischen Instagram, Tiktok und Twitter, während sich das digitale Augustinum weiter auf Facebook verliert.
Vielleicht ist dieses permanente Scrollen ja auch nur eine Brückentechnologie, zurück zu der Einsicht, dass ein Buch am Abend doch gesünder ist als die Beziehung zum ständig um Aufmerksamkeit plärrenden Handy. Die Angst, eine Brücke zu überqueren, nennt man übrigens Gephyrophobie. Wieso Sie das an dieser Stelle lesen? ...