Szene aus der Neuinszenierung des Musicals „Hair“ im Alten Schauspielhaus in Stuttgart. Foto: Martin Sigmund

Das Musical „Hair“ gilt als Meilenstein der Popkultur. Abend für Abend ist es im Alten Schauspielhaus ausverkauft. Das Publikum ist überraschend jung, wie unser Kolumnist bei seinem Besuch erlebt hat. Wollen Hipster lieber Hippie sein?

Stuttgart - Lange Haare, nix an. Als „Hair“ 1968 am Broadway Premiere feierte, schmissen die Darsteller bereits vor der Pause ihre Kleider weg. Die nackten Hippies verstanden dies als Akt der Befreiung. Mit blanken Busen protestierten die Blumenkinder. Ihr Siegeszug ging weit, sehr weit – bis nach Böblingen.

In der Großen Kreisstadt sollte 1969 eines der wichtigsten Musicals der Musikgeschichte in einer nicht ganz so anzüglichen, aber doch nackten Tourproduktion gastieren. Bei der Staatsanwaltschaft in Stuttgart ging die Strafanzeige eines NPD-Abgeordneten ein. Vor Sodom und Gomorra warnte er. Die Ermittler besuchten die Vorstellung. Im Zeitungsarchiv steht was von einem „Betriebsausflug“ der Behörde. Bestens gelaunt sollen die Staatsanwälte zurückgekehrt sein – und schmetterten die Strafanzeige ab.

50 Jahre später hat sich die Aufregung um Orgien, Sit-ins für Frieden und das Schlucken von Substanzen endgültig gelegt – so sehr, dass bei der Neuinszenierung des Alten Schauspielhauses zwei nackte Männerpos ausreichen, die dem Publikum entgegengestreckt werden.

Auch bei Moni Hirschle in der Marquardt-Komödie ist es immer voll

Zum Provozieren müssen die Darsteller nicht mehr Geschlechtsteile herzeigen. Stattdessen hat Regisseur Klaus Seiffert Transparente der heutigen Zeit in die Demoszenen geschmuggelt. „Oben bleiben“ kommt vor und Feinstaub auch. Die aktuellen Bezüge allein dürften nicht der Grund sein, warum sich der neue Chef Axel Preuß im ersten Winter seiner Intendanz über zwei heiß brummende Häuser freuen kann. Mit Schwabenstar Monika Hirschle im „Tratsch im Treppenhaus“ ist’s auch in seiner anderen Spielstätte, in der Komödie im Marquardt, gerade immer voll. Das Theater lebt und bebt!

Um den Spielplan nicht durcheinander zu bringen, kann der Intendant seine beiden Erfolgsstücke nicht verlängern. Bei „Hair“ ist zumindest eine Zusatzvorstellung am 19. Januar, 16 Uhr, noch drin, nachdem alle anderen Tagen ausverkauft sind. Überraschend viele junge Menschen schauen sich im Alten Schauspielhaus das Musical aus der Zeit des Vietnam-Kriegs an, das sich deutlich vom Kinofilm aus dem Jahr 1979 unterscheidet. Wollen sie dahinter kommen, was ihre Eltern geprägt hat? Wollen sie sich mitreißen lassen von der Musik, die fast durchgängig aus Hits besteht und vom Stuttgarter Ensemble hervorragend gespielt wird? Wollen sie lieber Hippie statt Hipster sein?

Frauen, die mit Blumen im Haar die freie Liebe lebten, sind heute Großmütter

Die politische Lage ist heute an viel zu vielen Orten der Welt angespannt . Es brodelt überall. Die Frage, wie die Menschheit mit der Erde umgeht, treibt junge Menschen um. Zu den Hippie-Zeiten war dies nicht anders. Ohne die 68er wäre das Leben heute ein anderes. Im Publikum sitzen auch viele Ältere. Intendant Preuß freut sich über ein Paar, das ihm sagte, bei der Deutschland-Premiere von „Hair“ in München vor 50 Jahren dabei gewesen zu sein. Männer, deren Mähnen immer länger wuchsen, tragen heute Glatze. Frauen, die mit Blumen im Haar die freie Liebe lebten, sind heute Großmütter.

Was ist aus den Träumen von einst geworden? Ob sie sich erfüllt haben, ist gar nicht so wichtig. Träume müssen nicht immer wahr werden. Sie wären dann so nüchtern wie Fahrpläne, vorhersehbar, langweilig, nur schlechte Kompromisse mit der traurigen Realität. Wer in seiner Jugend Wolken verschiebt, profitiert im Alter davon. „Hair“, so zeigt sich in diesem Stuttgarter Winter, ist ein Ort, an dem Jüngere und Ältere zusammenkommen, um gemeinsam die Sonne hereinzulassen.