Das Kind alleine bei Dämmerung oder Nacht unterwegs: Bei vielen Eltern geht da der Puls hoch. Foto: imago images/Stephan Görlich

Behüten oder loslassen? Das ist in der Erziehung ein steter Balanceakt. Vor allem nachts, wenn Kinder auf sich warten lassen.

Mädchen vermisst. Junge Frau vergewaltigt: Beim Lesen solcher Zeitungsmeldungen stockt allen Vätern und Müttern der Atem, der Puls beschleunigt. Sofort tauchen die schlechten Momente aus den Erinnerungen auf: an die Nächte, in denen der letzte Bus das eigene Kind nicht wie vereinbart heimgebracht hatte und elterliche Anrufe ins Leere liefen.

Das Kino im Kopf speisen dann unweigerlich Bilder, die Fernsehkrimis und Nachrichtenmedien zigfach liefern. Bilder von Übergriffen und Gewalt jeglicher Art, von Blut und Blaulicht, von Notaufnahme und Schlimmerem.

Da ist jedes Mal das erste Mal

Das Wissen, dass Kindern die miesesten Dinge meist im familiären Umfeld passieren, hilft in einer solchen Situation wenig - auch nicht die Erfahrung, dass doch bislang nie was war. Ein Kind, das nachts auf sich warten lässt? Da ist jedes Mal das erste Mal.

Am Ende war bei den Zuspätheimkehrenden schlicht mal wieder der Handy-Akku schon alle, bevor die Freundesgruppe entschieden hatte, auf die letzte Bahn oder ein noch späteres Taxi umzusteigen. Von einem anderen Handy aus kurz Bescheid geben? Blöd, das ging in der Feierlaune unter. Und schließlich war aus Sicht der nur für ein Ministündchen verlorenen Tochter alles bestens: Sie war bis zum Ende, wie von Muttern kompromisslos empfohlen, unter Freunden, den letzten Bus dagegen hätte sie allein nehmen müssen.

Bei den best friends der Kinder anrufen, wenn Sohn oder Tochter überfällig sind und sie bei einem so gut wie sicheren Fehlalarm als überbehütet abgestempelt wissen? So groß war meine Not zum Glück nie. Zwischen Helikoptermama und Rabenmutter den goldenen Mittelweg zu finden, ist für Erziehende aber ein permanenter Balanceakt.

Junge Frauen und der öffentliche Raum

Was antworte ich besorgten Freunden, die kritisieren, dass ich meine Tochter ohne zu protestieren im knappen Sporttop zum Joggen losziehen lasse, dass der Rock ein bisschen kurz für die Unwägbarkeiten einer Großstadtnacht sei? Klar, das, was feministischer Argumentationsschatz und mütterliche Solidarität bei einer solchen Gelegenheit hergeben: „Sprecht ihr Männer an, die bei Hitze ungeniert aufs T-Shirt verzichten? Da ist doch noch wesentlich weniger Stoff.“ Oder: „Ich dachte, die Zeiten sind vorbei, in denen Frauen als sexuelle Objekte gesehen werden, die von Männern erobert werden dürfen. Statt die einen einzuschränken, solltet ihr lieber die anderen in ihre Schranken verweisen.“ Alternativ: „Erinnert doch lieber Männer daran, nachts die Straßenseite zu wechseln, wenn ihnen eine Frau entgegenkommt.“

Aber insgeheim weiß ich ebenso gut wie alle anderen, dass Frauen sich im öffentlichen Raum nicht sicher fühlen können. Dass eine junge Frau ihre Selbstbestimmtheit auch über ihre Kleidung zum Ausdruck bringen will und unbehelligt dürfen muss, würde ich jederzeit unterschreiben. Nur nicht nachts um drei Uhr, wenn meine Tochter aus dem Club aufbricht. Das Abwägen zwischen Behüten und Loslassen ist für Eltern eine stete Herausforderung.

Das am Anfang geschilderte beklemmende Gefühl habe ich übrigens auch, wenn ich von Messerstechereien unter jungen Männern lese. Ein Albtraum, würde der eigene Sohn da hineingeraten. Die neue, seit 1. Februar geltende Waffenverbotszone in der Stuttgarter City beruhigt sicherlich nicht nur meinen Puls.

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Andrea Kachelrieß hat zwei Kinder, und das seit einigen Jahren. Gefühlt bleibt sie in Erziehungsfragen aber Anfängerin: Jeder Tag bringt neue Überraschungen.