Schon zu Zeiten des Commodore C64 wurden fleißig Programm verschenkt. Foto: Fotolia

Mit frei verfügbaren Programmen können wir uns immer wieder selbst beschenken. Willkommen im Reich der Public-Domain-Software!

Stuttgart - Es war 1983 und es klingelte. Vor meiner Tür stand ein Typ mit einem Stapel Diskettenboxen unterm Arm. „Marc“, sagte er. Ein gemeinsamer Freund habe ihm gesagt, dass ich auch einen Computer hätte, und zwar genau so einen wie er, einen Commodore C64 – den künftigen VW Käfer des Homecomputer-Zeitalters. Es war noch exotisch, einen Computer zu besitzen. Als ich 1979 dem ersten Menschen begegnet war, der sagte „Ich habe einen Computer zu Hause“, hörte sich das genauso an wie „Ich habe einen Antischwerkraftgenerator in meinem Keller.“ Marc hielt mir die Diskettenboxen hin. „Ich habe Software“, sagte er, und: „Kannst du alles umsonst haben.“ Das konnte doch gar nicht sein. Ein fremder Mensch machte sich die Mühe, extra zu mir zu kommen, um mir Software zu schenken? Es mussten sich geschätzte 50 Disketten in Marcs Schatzkistchen befinden. Und irgendwo musste da noch ein Haken sein. Ich bat ihn rein, im Flur sagte er dann „Es gibt eine Bedingung.“ Nun war die Katze aus dem Sack.

Diskettenstation im Kühlschrank

„Ich schenke dir die Programme, aber du musst mir versprechen, dass du sie auch weiterverschenkst.“ Das brachte mich aus dem Konzept. Ich hatte bis dahin schon einiges über unsere Gesellschaft gelernt und darüber, wie sie sozial und ökonomisch funktioniert. Von einer solchen vergnügten Art der Selbstlosigkeit war mir aber nichts bekannt. In einer Plastiktüte hatte Marc die Diskettenstation seines C64 mitgebracht. Er wusste, wenn man viel kopiert, wird die Diskettenstation heiß und der Schreib-Lese-Kopf für die Daten verstellt sich. Also kam abwechselnd seine oder meine Diskettenstation in den Kühlschrank, während wir kopierten. Ich weiß noch, dass ich als erstes ein Dutzend Kopierprogramme kopiert habe, Tools, die einem damals über die Unzulänglichkeiten der frühen Betriebssysteme hinweghalfen. Auch von der Software, die bei späteren Kopierorgien ausgetauscht wurde, benutzte man im übrigen nur den kleinsten Teil tatsächlich. Stattdessen begann man sich als Mensch der alten Zeit zu erkennen, in der Besitzen noch wichtiger war als Benutzen – und die nun zu Ende ging.

Software war eine merkwürdige neue Substanz, vor allem als Wirtschaftsgut. Einmal verfasst, kann sie unendlich oft vervielfältigt werden. Sie erinnerte mich an die wundersame Brotvermehrung aus der Bibel, bei der aus wenigen Broten und Fischen ausreichend Nahrung für die Speisung Tausender wurde. Aber nicht die neue Möglichkeit, digitale Habe zu raffen, war das Entscheidende, das mir an diesem Nachmittag mit Marc zum ersten Mal begegnete, sondern etwas, das ursprünglich Public Domain (PD) hieß.

Elektronische Nachbarschaftshilfe

An den ersten, großen Computern, an denen mehrere Menschen gleichzeitig arbeiten konnten, war die Public Domain – der „öffentliche Bereich“ – ein Teil des Speicherplatzes, in dem jeder Nutzer für alle anderen verfügbar selbstverfasste Software ablegen konnte, die ihm gute Dienste leistete und die vielleicht auch für jemand anderen nützlich war. Aus dieser elektronischen Nachbarschaftshilfe gingen die ersten großen Gemeinschaftsprojekte im jungen Netz hervor – etwa der Facebook-Großvater Usenet oder das freie Betriebssystem Linux. Heute gibt es für das, was früher PD war, verschiedene Begriffe, die alle mit Open beginnen: Open Source, Open Data, Open Access. Es ist die bemerkenswerte Entwicklung immer neuer, intelligenter Möglichkeiten, durch die eine Gesellschaft sich selbst beschenken kann. Eine Art digitaler Dauerweihnachtsmann, wenn man so will.