Spezielle Nervenzellen, sogenannte Nozizeptoren, empfangen ein Schmerzsignal und leiten es über eine Synapse im Rückenmark an das Gehirn weiter. Dort erst entsteht die eigentliche Schmerzempfindung. Foto:Fotolia/adimas Foto:  

Körperliches Leid muss keine körperlichen Ursachen haben. Viele Ärzte sind sich dessen nicht bewusst, weil sie nicht über ihre Disziplin hinausblicken – zum Nachteil der Patienten. Ein Erfahrungsbericht.

Stuttgart - Es fühlt sich an, als würde jemand mit einer Motorsäge durch die Wirbel fahren. Nicht kurz und schmerzlos, sondern langsam und quälend. Dazu passt der metallisch sirrende Ton im Ohr, der immer dann anschwillt, wenn sich der Schmerz aufbaut. Der Nacken pulsiert, beginnt zu brennen, bald gleicht er einem Schlachtfeld, auf dem so lange gewütet wird, bis eine chemische Keule die Szenerie überflutet, allen Schmerz wegspült und den Patienten, wenn der nicht schon wegge-dämmert ist, mit Matschrübe und verklärtem Blick zurücklässt.

Den Stationsärzten der Abteilung Orthopädie sind die Schmerzattacken der Patientin ein Rätsel. Auf die Klinik soll nicht weiter eingegangen werden, gesagt sei lediglich, dass es sich um eine gewöhnliche städtische Einrichtung im Großraum Stuttgart handelt. Auch der Wirbelsäulenspezialist im Haus blickt ratlos auf die MRT-Bilder, die eine vorgewölbte Bandscheibe in der Halswirbelsäule zeigen, nicht mehr und nicht weniger. „Der Befund gibt nicht ganz die von Ihnen beschriebenen Symptome wieder“, sagt er ein wenig hilflos. Er rate daher zu einer konsequenten, sieben Tage langen Einnahme von Schmerzmitteln. Offenbar weiß er auch nicht mehr als all die anderen Orthopäden und Neurologen, die vor dem Klinikaufenthalt konsultiert wurden. Nur die Medikamente, die er anordnet, sind stärker.

In den ersten drei Tagen tropft ein rosarotes Gemisch aus Cortison, Vitaminen und einem Opioid namens Tramadol in die Venen, das alles Zucken im Rücken zum Erliegen bringt. Freunde kommen zu Besuch. Alles wird gut, sagen sie. Doch als der Wirkstoff in Tablettenform gereicht wird, meldet sich wieder das leise Sirren. In den runden weißen Pillen muss irgendeine Substanz sein, die Schwindel und Brechreiz verursacht. Alles beginnt sich zu drehen, zu verschwimmen, zwischen Wahrnehmung und Realität schiebt sich eine Nebelwand. Der Nacken erwacht wieder zum Leben.

Eine Kombination aus Betäubungsmitteln und Cortison

Zweifel an der Behandlung will der Stationsarzt gar nicht erst aufkommen lassen. „Das ziehen wir jetzt erst mal durch“, sagt er bei der morgendlichen Visite. Lieber widmet er sich der frisch operierten Bettnachbarin, die sich den Fuß gebrochen hat. Da gibt es einen Verband zu öffnen, eine konkrete Wunde zu desinfizieren. „Das sieht doch prima aus“, lobt er seine Arbeit, während nebenan der Tinnitus alles zu übertönen versucht. Kann es sein, dass Götter in Weiß einen im Stich lassen?

Erlösung verschafft erst die Nachtschwester, die um drei Uhr morgens den Schrank mit den Betäubungsmitteln aufschließt und eine blaurote Pille namens Palladon in die zittrige Hand der Patientin fallen lässt. Ein Akutmedikament, dessen Wirkung nicht lang anhält. Vier Stunden später muss die Schwester erneut aufstehen. Von da an wird der Schrank das ganze Wochenende über alle vier Stunden geöffnet. Der Arzt, der Wochenenddienst hat, gibt dazu achselzuckend seinen Segen.

Nach einer Woche stellt die Visite fest, dass die Therapie fehlgeschlagen ist. Als letzte Maßnahme soll eine Kombination aus Betäubungsmitteln und Cortison in den Hals gespritzt werden. Sechs Stunden lang bleibt der Schmerz aus – so lange wirkt das Betäubungsmittel, dann geht die Schlacht mit unverminderter Härte weiter. Was die Ursachen für die Pein sind, ist nicht mehr von Bedeutung. Es gibt nur noch einen Wunsch: schmerzfrei zu sein.

Die pure Angst, das Falsche zu tun

Wenn man ins Smartphone die Stichworte „Schmerzen“, „Klinik“ und „Stuttgart“ eingibt, spuckt Google die „stationäre Schmerztherapie des Klinikums Stuttgart“ aus. Auf der Webseite steht einleitend, dass Schmerzen nicht immer eine biologische Ursache haben, dass sie ihre „eigentliche Warnfunktion“ verlieren und selbst zu einer Krankheit werden können. Durchforstet man die Seite, was unter Schmerzen viel Willen erfordert, findet man die E-Mail-Adresse des leitenden Arztes.

Stefan Junger liest seine Mails auch an Sonntagen. Dramatisch artikulierte Hilferufe nimmt er offenbar ernst. Wenige Stunden später meldet er sich. „Opioider Fehlgebrauch? Misslungene stationäre Therapie? Schmerzen seit mehr als drei Monaten?“ Die Voraussetzungen der Krankenkassen für eine Aufnahme seien erfüllt. „Am Mittwoch wird ein Bett frei.“ Da blitzt es auf, das verloren geglaubte Vertrauen, sein Schicksal noch selbst in der Hand zu haben.

Bei der letzten Visite vor der Verlegung nach Stuttgart runzelt der Stationsarzt die Stirn. „Schmerztherapie? Die Spritze hat doch immerhin vorübergehend die Schmerzen genommen.“ Er rate zu einer zweiten Spritze. „Bleiben Sie lieber da“, warnt er. Noch mal schraubt sich der Schmerz in ungeahnte Höhen. Verwandte und Freunde geben gut gemeinte Ratschläge. Wäre die Verlegung in eine Wirbelsäulenklinik, eine mit gutem Ruf, nicht ratsamer? Die pure Angst, das Falsche zu tun, das Richtige zu unterlassen, gibt zusätzliches Feuer in den Nacken. Was, wenn die Schmerzmediziner nur noch mit Medikamenten ruhig stellen und gar nicht mehr nach körperlichen Ursachen schauen? Am Ende setzt sich eine Stimme im Kopf durch, die darauf drängt, dieses Krankenhaus so rasch wie möglich zu verlassen und sich der Schmerzmedizin des Klinikums Stuttgart anzuvertrauen.

Zur Decke zu schauen gleicht einer Folter

Am Aufzug wartet Stefan Junger höchstpersönlich. Er führt durch sein kleines Reich: sein Arztzimmer und vier Patientenzimmer. Große Fenster, Blick ins Grüne, Stille. Man könnte meinen, ein Kuraufenthalt stehe bevor, doch Junger lässt seiner neuen Patientin kaum Zeit zum Luftholen. Seine Assistentin kommt bereits hereinmarschiert mit einem Stundenplan. Diesem zufolge ist die Therapie bereits im vollen Gange. Wir befinden uns im Einzelgespräch. Danach geht es zur Physiotherapie, im Anschluss daran zur Entspannung aufs Wasserbett, dann Mittagessen, dann Gruppengymnastik, Visite und am Abend das Angebot, in einer kleinen Werkstatt zu malen. Trotz der vielen Programmpunkte bleibt der Nacken merkwürdig friedlich. Die Zeit, sich zu fragen, ob das Programm vielleicht zu anstrengend ist, ob der Körper nicht überfordert wird, steht auch nicht zur Verfügung.

Der Kreis der Mitpatienten ist überschaubar. Da ist Mirko (alle Patientennamen wurden geändert), ein kräftiger Blondschopf, der sich sein Leiden nicht anmerken lässt. Während einer Schreinerlehre ist er mit schweren Rigipsplatten in der Hand von der Ladefläche des Lastwagens ungedämpft auf Asphalt hinuntergestapft. Die Stöße haben mehrere Bandscheiben im Lendenwirbelbereich in Richtung Rückenmark gepresst. Er musste unters Messer. Nach dem Eingriff wucherte die Narbe und verwob sich mit den Nervenbahnen. Morgens schlucke er an die 40 Tabletten, sagt er. Carsten, der andere Zimmernachbar, hat sich seine Bandscheiben auf dem Bau ruiniert. Er geht gebückt, mit schmerzverzerrtem Gesicht. Später kommt Irene dazu, ebenfalls Rückenschmerzpatientin, 78 Jahre alt, die gute Seele in der Truppe. Sie hat für alle ein Ohr, auch für Walter, einen pensionierten Koch, dessen ganze rechte Körperhälfte schmerzt. Er redet ununterbrochen, wiederholt Anekdoten aus seinem Leben, ohne Rücksicht auf seine Zuhörer. Vielleicht ist das eine Strategie, sich von den Schmerzen abzulenken.

Täglich geht es aufs Laufband, auf Gymnastikmatten, auf Gummibälle, um verkrampfte Muskeln zu lösen und verkümmerte zum Leben zu erwecken. Der Hals, mittlerweile steif und wie festgeschraubt, muss seine Schonhaltung aufgeben. Zur Decke zu schauen gleicht einer Folter.

Alles nur psychisch?

Stefan Junger zeigt kein Mitleid. „Gehen Sie aufrecht“, kommandiert er von seinem Schreibtisch aus, als Carsten an seinem Büro vorbeihumpelt. Zweimal am Tag kommt er in die Zimmer, setzt erbarmungslos die Dosierung der Schmerztabletten herunter, nimmt die vom Hausarzt verschriebenen Schlafmittel weg und ersetzt sie durch schwächere. Nach zwei Wochen liegen im Medikamentenschächtelchen nur noch harmlose, entzündungshemmende Tabletten. Der Nacken wehrt sich kaum gegen die Medikamentendiät. Hat er Frieden geschlossen? Was war überhaupt der Grund für die Kriegserklärung?

Licht ins Dunkel bringt Lore Bürkle, eine kleine Frau, graues Haar, schmale, freundliche Augen. Sie ist keine Orthopädin, auch keine Schmerzmedizinerin, sondern Psychologin. Jeder muss mehrere Male zu ihr, zur Einzel- und zur Gruppentherapie. In einer Gruppensitzung spricht sie über das „Fass der Spannungen“, das überlaufen kann, und zwar in Form von Schmerzen. Carsten hat die Arme vor der Brust verschränkt, Mirko macht ein gleich-mütiges Gesicht. Sie scheinen sich nicht angesprochen zu fühlen. „Wenn wir aufwachen, haben wir eine Grundanspannung von 25 Prozent. Bei der Arbeit kommen 65 Prozent dazu. Haben wir darüber hinaus Ärger, Stress oder Sorgen, läuft das Fass über, wenn wir nicht regelmäßig Spannung abbauen“, erklärt sie. Wird das verlernt oder vergessen, und „besonders verkopfte, perfektionistische und sensible Menschen sind dafür anfällig“, so Bürkle, melde sich der Körper irgendwann entweder mit Depressionen, gesellschaftsfähiger sei „der Modebegriff Burn-out“, aber auch mit Migräneattacken, Rückenschmerzen und anderen Erkrankungen.

Also alles nur psychisch? Aber was ist mit der vorgewölbten Bandscheibe? Es kribbelt noch immer in der Hand, noch immer ist der Nacken verhärtet. Wäre nicht eine weitere MRT-Untersuchung hilfreich? Und was ist mit Mirko und Carsten? Ist bei denen etwa auch der ganze Schmerz psychosomatisch?

Der Orthopäde ist verlegen

Während seiner Visiten erklärt Junger, dass chronische Schmerzen nicht eine Ursache haben, sondern immer ein Ursachenbündel. „Beim einen spielen eher körperliche, beim anderen psychosoziale Gründe eine Rolle.“ Gemein sei allen der Leidensdruck. „Viele ziehen sich aus dem sozialen Leben zurück, sorgen sich oder entwickeln Depressionen, was den Schmerz weiter verschlimmert. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, betrachten wir in unserer Therapie alle Ebenen.“

Einige Wochen nach der Entlassung aus der Klinik wird ein neues Rezept für Krankengymnastik fällig. Der niedergelassene Orthopäde ist ein wenig verlegen – die Entlassbriefe der beiden Kliniken scheint er aufmerksam gelesen zu haben. „Wissen Sie“, sagt er, „ich könnte theoretisch jedem zweiten Patienten mit Nackenbeschwerden sagen, dass die Symptome psychische Ursachen haben oder ein achtsamerer Lebenswandel helfen könnte. Aber dann würden sich meine Patienten nicht ernst genommen fühlen. Sie würden am nächsten Tag zum Kollegen gehen.“

Er hat vermutlich recht.

Hintergrund: Chronische Schmerzen sind ein Massenphänomen

3,25 Millionen Menschen in Deutschland leiden laut einem Bericht der Krankenversicherung Barmer GEK unter chronischen Schmerzen - vier Prozent der Bevölkerung. 2005 lag ihr Anteil noch bei 1,6 Prozent. Ihre Leidensgeschichte dauert im Durchschnitt sieben Jahre, jeder fünfte kämpft 20 Jahre oder länger gegen die Beschwerden. Frauen sind häufiger betroffen als Männer. Die häufigsten Leiden sind Rücken-, Kopf- und Nervenschmerzen.

Seit den 90er Jahren herrscht in der Medizin Konsens darüber, dass chronische Schmerzen interdisziplinär behandelt werden sollten. Die sogenannte multimodale Schmerztherapie kombiniert medizinische, physiotherapeutische und psychologische Behandlungen und wird mittlerweile in den größeren Krankenhäusern angeboten. Einer Studie der Barmer GEK nach nehmen jedoch nur fünf Prozent der Krankenhauspatienten mit Rückenschmerzen an einer multimodalen Schmerztherapie teil. Die Mehrheit der Betroffenen lässt sich operieren oder spritzen.

Nach Ansicht von Michael Überall, dem Präsidenten der Deutschen Schmerzliga, hat diese Diskrepanz zwei Gründe: In der modernen westlichen Medizin sehen sich viele Orthopäden als „Reparateure“, die lieber ausgiebig nach einem Befund suchen, als sich einzugestehen, dass die Lösung nicht in ihrem Dunstkreis liegt. Zum anderen betrachten die Patienten die Ärzte „als Dienstleister“, so Überall, die sie gegen Bezahlung wieder gesund machen sollen. „Viele Patienten tingeln jahrelang von Arzt zu Arzt, auf der verzweifelten Suche nach einer biologischen Ursache“, beobachtet der Experte. Mit der Einsicht, dass sie womöglich selbst für ihr Leiden verantwortlich sind, tun sich viele Patienten schwer.