Olaf Scholz vor europäischen Fahnen – seine künftige Regierung gibt als langfristiges strategisches Ziel die Vereinigten Staaten von Europa aus. Foto: dpa/Kay Nietfeld

In Sachen EU könnte der Ehrgeiz im Ampel-Koalitionsvertrag kaum größer sein. Er gibt auch einige Antworten darauf, wie der Weg zu Vereinigten Staaten aussähe.

Berlin - Mitten in der eskalierenden Coronakrise ist den weitgehenden europapolitischen Plänen der künftigen Ampelregierung noch nicht die ganz große Aufmerksamkeit geschenkt worden, ebenso wenig wie der Einschätzung von Christian Moos, dem Generalsekretär der parteiübergreifenden Europa-Union, zum Koalitionsvertrag: „Wenn den Worten Taten folgen, stehen wir vor einem großen europäischen Moment.“

Ausgehend von den Wahlprogrammen, in denen die Grünen Schritte hin „zur Föderalen Europäischen Republik“ und die Liberalen eine EU-weite Volksabstimmung über „einen föderal und dezentral verfassten Europäischen Bundesstaat“ forderten, ist auch ihr Koalitionsvertrag mit der SPD europapolitisch extrem ambitioniert. In der bereits laufende Konferenz zur Zukunft Europas sprechen als Reaktion auf die Krisen der vergangenen Jahre Regierungsvertreter, Abgeordnete, zivilgesellschaftliche Akteure mit zufällig ausgewählten Bürgern über das weitere Vorgehen. Nach dem Willen der Ampel soll sie „in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen“.

Das würde natürlich eine grundlegende Änderung der europäischen Verträge verlangen, zu denen sich SPD, Grüne und Liberale auch bekennen. Die drei Parteien geben zudem bereits eine inhaltliche Richtung vor, wie ein europäischer Staat auf Grundlage der europäischen Grundrechte-Charta verfasst sein müsste, nämlich „dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit“. Wichtig war dieser Zusatz gerade der FDP. Ihrem bisherigen europapolitischen Sprecher Michael Link zufolge ging es darum, „einerseits ein glasklares Signal zur Fortsetzung des EU-Integrationsprozesses zu setzen, mit unserem Langfristziel der Schaffung eines europäischen Bundesstaats, anderseits aber auch einer schleichenden Zentralisierung und Allzuständigkeit in der EU entgegenzuwirken“.

Vereinigte Staaten ja, zentralistischer Superstaat nein

In diesem Zusammenhang interessant sind mehrere Zwischenschritte, die ebenfalls Erwähnung finden. So soll das Europaparlament ein vertraglich verankertes Initiativrecht wie der Bundestag bekommen, das auf EU-Ebene bisher allein bei der Brüsseler Kommission liegt. Auch der Rat der 27 Regierungen, aus europäischer Perspektive eine Länderkammer wie in Berlin der Bundesrat, soll nach dem Willen der Ampel nicht nur häufiger mit Mehrheit entscheiden, sondern auch transparenter arbeiten: „Wir werden eine Initiative dafür ergreifen, dass Kommissionsvorschläge im Rahmen einer gesetzten Frist öffentlich im Rat debattiert werden.“ Gestärkt werden soll die Demokratie auch über ein einheitliches Wahlrecht – bei der Europawahl 2024 stünde das Bewerberfeld nicht allein auf nationalen Listen, Spitzenkandidat oder -kandidatin der siegreichen Partei würde verbindlich die EU-Kommission anführen.

Dass sie mit dem Coronafonds erstmals im großen Stil Schulden aufnehmen und wie ein Staat agieren kann, definiert die Ampel anders als die CDU-geführte GroKo nicht mehr als einmaliges, sondern etwas weicher als „ein zeitlich und in der Höhe begrenztes Instrument“. Das eröffnet Spielräume.

Notfalls mit einer Koalition der Willigen voran

In Staaten wie Ungarn und Polen, gegenüber denen es laut Ampel für die EU-Kommission überdies gilt, ihre Sanktionsmittel im Streit um eine nicht mehr unabhängige Justiz „konsequenter und zeitnah zu nutzen“, sind weitere radikale Integrationsschritte wie auch eine neue EU-Sozialpolitik oder die asylpolitischen Vorstellungen mit einer aktiven Seenotrettung schwer vermittelbar. „Die seit Jahren anstehenden Aufgaben müssen wir jetzt Schritt für Schritt, wo nötig mit einer Koalition der Willigen, angehen“, sagt deshalb Franziska Brantner, die für die Grünen die entsprechenden Passagen im Koalitionsvertrag verhandelt hat.

Man habe darin „einen Kompass definiert, der der deutschen Europapolitik in den letzten Jahren fehlte. Wir richten unser Handeln aus am europäischen Bundesstaat, der Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie und der strategischen Souveränität Europas“. Bei der Energieversorgung, Gesundheitsprodukten und digitaler Technik will die Ampel den Kontinent unabhängiger machen, „ohne Europa abzuschotten“.