Die Spitzen von CDU/CSU und SPD haben sich am Dienstagabend nach langen Differenzen überraschend auf eine Wahlrechtsreform verständigt – zudem auf ein Gesamtpaket zur Verlängerung von Corona-Maßnahmen, inklusive Kurzarbeitergeld.
Stuttgart - Die große Koalition ist handlungsfähig – dieses Signal haben CDU/CSU und SPD am späten Dienstagabend ausgesandt, als sie ihre Einigung zu diversen Streitfragen im Koalitionsausschuss bekanntgaben. Ihnen gelang bei den gut achtstündigen Beratungen im Kanzleramt sogar ein Durchbruch, den viele nicht mehr für möglich gehalten hätten. Ein Überblick.
Wahlrechtsreform beschlossen
Die große Koalition hat für viele unerwartet ihren langjährigen Streit um die Reform des Wahlrechts beigelegt. Die Partei- und Fraktionsspitzen einigten sich auf ein Zwei-Stufen-Modell: Für die Bundestagswahl 2021 soll eine Übergangslösung gelten, um den Zuwachs der Abgeordnetenzahl zu „dämpfen“, wie CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer sagte. Vor der Bundestagswahl 2025 soll dann die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 280 reduziert werden.
Nach der Bundestagswahl 2021 soll sich zudem eine Reformkommission aus Wissenschaftlern, Abgeordneten und weiteren Mitgliedern zusammensetzen und bis 30. Juni 2023 weitere Änderungsvorschläge vorlegen. Beraten soll sie zum Beispiel über die Senkung des Wahlalters von 18 auf 16 Jahre, die Verlängerung der Wahlperiode von vier auf fünf Jahre, eine gleichberechtigte Repräsentanz von Frauen und Männern auf Kandidatenlisten und im Bundestag sowie über eine Modernisierung der Parlamentsarbeit.
Der Kompromiss stelle sicher, dass bereits nach der Wahl 2021 „der Bundestag kleiner wird als bisher“, sagte SPD-Chef Norbert Walter-Borjans. „Es sind wichtige Bremsen, die da eingezogen werden.“ Die große Koalition muss nun aber erst auf die Opposition zugehen und versuchen, auch diese einzubinden. Üblicherweise werden Fragen des Wahlrechts mit breiter Mehrheit im Bundestag beschlossen. An der Kommission sollen sich daher auch Oppositionsvertreter beteiligen.
Grundsicherung für Künstler und Kleinselbstständige
Von der Corona-Krise besonders betroffene Künstler, Kleinselbstständige und Kleinunternehmer sollen einen erleichterten Zugang zur Grundsicherung erhalten. Dazu will die Koalition beim Schonvermögen großzügigere Regelungen treffen. Auch der wegen der Krise erleichterte Zugang zur Grundsicherung insgesamt soll verlängert werden – bis 31. Dezember 2021.
Mitte März war von der Bundesregierung beschlossen worden, dass es keinen Nothilfefonds des Bundes für Künstler und Kulturschaffende geben solle. Diese sollten aber erleichterten Zugang zur Grundsicherung bekommen. Viele Betroffene sehen die Grundsicherung skeptisch. Deshalb war zuletzt die Forderung nach einer Existenzsicherung von Künstlern in Form von Betriebszuschüssen lauter geworden.
Mehr Geld für digitale Bildung
Aus den EU-Corona-Hilfsgeldern soll eine digitale Bildungsoffensive finanziert werden, die zum einen aus 500 Millionen Euro für die Ausstattung von Lehrern mit digitalen Endgeräten besteht. Zum anderen soll der Aufbau einer bundesweiten Bildungsplattform vorangetrieben werden, die etwa einen geschützten und qualitätsgesicherten Raum für hochwertige digitale Lehrinhalte ermöglichen soll.
Kostenloses Mittagessen für Kinder
Bei Schul- und Kitaschließungen wegen Corona sollen Kinder ärmerer Eltern weiter kostenloses Mittagessen erhalten können. Die Kinder sollen bis 31. Dezember 2020 mit Mittagessen im Rahmen des Bildungspakets versorgt werden. Kritiker hatten im Frühjahr bemängelt, dass Lieferungen nach Hause durch einen kommunal anerkannten Anbieter nur schwer umsetzbar seien.
Angehörigenpflege unterstützt
Wer coronabedingt Angehörige pflegt oder Pflege neu organisieren muss, kann in diesem Jahr bis zu 20 Arbeitstage frei machen. Das Pflegeunterstützungsgeld kann ebenfalls bis zu 20 Arbeitstage in Anspruch genommen werden.
Kurzarbeitergeld verlängert
Unternehmen in Deutschland können Jobs in der Corona-Krise weiter durch erleichterte Kurzarbeit absichern. Die Spitzen von Union und SPD verständigten sich auf eine Verlängerung der erleichterten Kurzarbeit von regulär 12 auf bis zu 24 Monate. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will die Pläne bereits an diesem Mittwoch ins Bundeskabinett bringen.
Die verlängerte Bezugsdauer soll für Betriebe gelten, die bis 31. Dezember 2020 Kurzarbeit eingeführt haben. Längstens soll das Kurzarbeitergeld bis Ende Dezember 2021 verlängert werden. Damit die Bundesagentur für Arbeit die Milliardenkosten für Kurzarbeit schultern kann, will die Koalition Steuergeld locker machen – als Zuschuss, nicht als Darlehen.
Aktuell geltende Regeln zum erleichterten Zugang zu Kurzarbeitergeld sollen noch bis zum 31. Dezember 2021 gelten – für alle Betriebe, die bis zum 31. März 2021 mit der Kurzarbeit begonnen haben. Dabei geht es darum, dass nur zehn Prozent der Belegschaft eines Betriebes von einem Entgeltausfall betroffen sein müssen und dass kein Aufbau negativer Arbeitszeitsalden erforderlich ist.
Die Sozialversicherungsbeiträge sollen bis 30. Juni 2021 vollständig erstattet werden. Vom 1. Juli bis 31. Dezember 2021 sollen für alle Betriebe, die bis zum 30. Juni Kurzarbeit eingeführt haben, die Sozialversicherungsbeiträge zur Hälfte erstattet werden. Diese hälftige Erstattung kann auf 100 Prozent erhöht werden, wenn eine Qualifizierung während der Kurzarbeit erfolgt.
Das Kurzarbeitergeld wird weiter auf 70 Prozent (77 Prozent bei Kindern im eigenen Haushalt) ab dem vierten Monat und auf 80 (87) Prozent ab dem siebten Monat erhöht. Diese Regeln sollen bis 31. Dezember 2021 für alle verlängert werden, deren Anspruch auf Kurzarbeitergeld bis zum 31. März 2021 entstanden ist. Regulär beträgt das Kurzarbeitergeld 60 (67) Prozent des ausgefallenen Nettolohns.
Überbrückungshilfen ausgebaut
Die Überbrückungshilfen für besonders belastete Unternehmen sollen bis Ende des Jahres laufen. Bisher ist das Programm bis Ende August befristet. Erstattet werden nach derzeitigem Stand für die Monate Juni bis August fixe Betriebskosten von insgesamt bis zu 150 000 Euro. Für die Zuschüsse hatte der Bund 25 Milliarden Euro eingeplant. Die Auszahlung der Gelder über die Länder läuft schleppend, auch weil das Verfahren komplex ist – die Politik will Betrugsfälle wie bei Corona-Soforthilfen verhindern. Die Überbrückungshilfen waren ein wichtiger Baustein des im Juni vereinbarten Konjunkturpakets.
Insolvenzrecht-Erleichterungen verlängert
Die Lockerungen im Insolvenzrecht werden ebenfalls verlängert, um in der Corona-Krise eine Pleitewelle zu verhindern. Demnach wird die Regelung über die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht für den Antragsgrund der Überschuldung bis Ende des Jahres weiterhin ausgesetzt. Die Insolvenzantragspflicht war im März bis Ende September ausgesetzt worden für Fälle, in denen eine Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung von Firmen auf den Folgen der Corona-Pandemie beruht.
Mehr Bürokratieabbau geplant
Die Koalition will eine Arbeitsgruppe für weniger Bürokratie einsetzen. Das hochrangige Gremium soll laut Beschlusspapier die Regelungsinhalte für ein „Bürokratieentlastungsgesetz IV“ identifizieren. Ziel des Gesetzes solle es sein, die Wirtschaft zu stärken und die hohen geltenden Standards zu erhalten. Die Koalition hatte bereits verschiedene Maßnahmen beschlossen, um Firmen von Bürokratie zu entlasten. Wirtschaftsverbänden geht dies aber nicht weit genug. (mit AFP, rtr, dpa)