Zuversicht auf beiden Seiten: Wladimir Klitschko und Anthony Joshua (li.) Foto: AP

Vor 90 000 Zuschauern im Wembleystadion fordert Wladimir Klitschko den Weltmeister Anthony Joshua heraus. Das größte Schwergewichtsduell seit langer Zeit elektrisiert die Sportwelt.

London - London meldet elf Grad, bedeckten Himmel und Nieselregen, als sich Michael Buffer im grauen Nadelstreifenanzug samt rosa Krawatte nach dem Wohlbefinden von Anthony Joshua erkundigt. Der britische Box-Weltmeister im Schwergewicht ist gerade beim offiziellen „Weigh In“, dem letzten Termin vor dem großen Showdown, von der Waage gestiegen. Jetzt nuckelt er zufrieden an einer hellblauen Trinkflasche. Dann geht der Daumen hoch. Es kann also los gehen für das Kraftpaket Joshua, für den leicht ergrauten Ringfuchs Wladimir Klitschko und für Buffer, den berühmtesten Ringsprecher der Boxwelt.

 

„Let’s get ready to rumble!“ Mit dieser legendären Zeile hat Buffer, ein inzwischen 72 Jahre altes Ex-Model aus Philadelphia, bereits mehr als 1000 professionelle Faustkämpfe angekündigt. Rund 5000 Euro streicht der in Ehren ergraute Gentleman auch an diesem Samstagabend (RTL/22 Uhr) im mit 90 000 Fans ausverkauften Wembleystadion ein. Die Sportwelt wird elektrisiert am Fernsehen dabei sein. „Big Fightime!“, sagt Buffer im Vorbeigehen. Auch der Mann, der die Massen anheizt, ehe er die Gladiatoren in die Ringschlacht schicken wird, scheint tief beeindruckt.

Beide Athleten gleich groß

Das wenig frühlingshafte London ist also bereit für seinen „Blockbuster Heavyweight Clash“, wie es die Plakate in den Underground-Stationen ankündigen. Es ist das weltweit beachtete Megaduell um die Krone des professionellen Boxsports, der Kampf des Jahrzehnts in der Königsklasse des Boxens, der an der Themse auf Augenhöhe stattfinden wird: Beide Fighter, Wladimir Klitschko und Anthony Joshua, sind mit 1,98 Metern gleich groß, beide sind sie bis in die letzten Winkel ihrer Körper austrainierte, mehr als 100 Kilogramm schwere Muskelmänner. Erstmals seit Jahren bekommt es der boxende Apoll Klitschko gar mit einem Kontrahenten zu tun, der ihn beim Umfang des Bizeps noch übertrifft.

Lange hat „Dr. Steelhammer“ das Schwergewicht nach Belieben beherrscht, jene Edelmarke seiner Sportart also, dessen Titelträger der Schriftsteller Norman Mailer einmal als „den großen Zeh Gottes“ bezeichnete. Klitschko konnte man niemals vorwerfen, er wäre einem unangenehmen Gegner aus dem Weg gegangen. Mit David Haye, Chris Byrd, Samuel Peter, Lamon Brewster oder Kubrat Pulev hat er die größten Namen seiner Zeit vor den Fäusten gehabt. Dass die nicht die Qualität mitbrachten, die es auf dem Weg zur boxerischen Unsterblichkeit braucht, ist nicht Klitschkos Schuld.

Nicht nur London ist elektrisiert

Dem einzigen großen Antipoden, der parallel zu seinen ganz großen Tagen in den Ring kletterte, dem durfte er sich nicht stellen. Mutter Nadeschda hatte ein Duell mit dem älteren Bruder Vitali, der in London argwöhnisch über den Jüngeren wacht, strengstens verboten.

„Er fühlt sich endlich wieder frei wie ein Vogel. Wladimir war neuneinhalb Jahre am Stück Weltmeister. Da ist ihm ein wenig die Motivation abhanden gekommen“, sagt Klitschko-Manager Bernd Bönte: „Das ist jetzt als Herausforderer natürlich ganz anders.“ Lange hatte Klitschko („Innerlich bin ich der Favorit, nach außen aber der Underdog“) auf seinen ganz großen Gegner warten müssen. Jetzt hat er ihn mit dem bärenstarken Joshua endlich gefunden.

Nicht nur London ist elektrisiert – die „Daily Mail“ wartet an diesem Samstag mit einer zehnseitigen Sonderstrecke zum Kampf auf, das Boulevardblatt „The Sun“ hält mit acht Seiten dagegen – auch der amerikanische Pay-TV-Riese Showtime überträgt live. Die Fans realisierten ebenfalls sofort, dass sich in Wembley Epochales zutragen könnte. Das Open-Air-Duell war blitzartig ausverkauft, als der Kampf der Generationen zwischen dem 41-jährige Olympiasieger von Atlanta 1996 und dem 14 Jahre jüngeren Olympiasieger von London 2012 in einer für die windige Boxbranche außergewöhnlich kurzen Zeit stand.

Ungewohntes Gastspiel

Immerhin wird Anthony Joshua durch „Matchroom Boxing“ seines Promoters Eddie Hearn vertreten. Dessen Vater Barry hat aus den Kneipensportarten Darts und Snooker mediale Megaevents gemacht. Nun unterstützt man den Weltmeister mindestens ebenso professionell wie es auf der Gegenseite der findige Bernd Bönte mittels der Hamburger Klitschko Management Group (KMG) tut. Es ist also kein Zufall, dass Klitschko diesmal Deutschland verlassen und zum Gastspiel auf die britische Insel reisen musste.

Ehe der erste Gong ertönt, rätselt die Fachwelt beim „Weigh In“, welcher der beiden Boxer nun der bessere Mann ist. Der in 68 Kämpfen (53 Knockouts, vier Niederlagen) gestählte Klitschko, oder sein Gegenüber aus Watford in England, der nervenstarke „AJ“, der seine bisherigen 18 Kämpfe allesamt vorzeitig beendete? „An erster Stelle geht es um mein Ego, das angekratzt ist“, sagt Klitschko, der am 18. November 2015 in Düsseldorf gegen den mental reichlich verwirrten Tyson Fury eine ebenso unerwartete wie einstimmige Punktniederlage bezog.

Seither ist Klitschko ohne Titel. Wenn er am Samstag in den Ring steigt, liegt eine 17-monatige Kampfpause hinter dem ehemaligen Champion. Die hat der Wahl-Hamburger auch den Mätzchen des Tyson Fury zu verdanken. Die Frage wird also sein: Wie hat Klitschko die lange Auszeit verdaut? Klar ist, dass ein trainierter Athlet wie er noch mit 41 Jahren Höchstleistungen abrufen kann, weil Schwergewichtler in besonderem Maße von ihrer Schlagkraft leben. George Foreman wurde mit 45 noch einmal Champion in der Königsklasse.

Klitschko droht die Boxerrente

„Grundsätzlich würde ich nie behaupten, der beste Schwergewichtler zu sein, bevor ich nicht alle Gürtel vereine“, sagt der besonnen auftretende Joshua, der den WM-Gürtel nach Version der International Boxing Federation (IBF) einbringt. Da die Insignien der World Boxing Association (WBA) vakant sind, geht es um zwei der vier bedeutenden Titel. „Wenn ich im Ring stehe, versuche ich, meinen Gegner auszutricksen“, sagt der Weltmeister aus Watford. Drei Jahre ist es her, da haben beide Boxer in Going in Tirol bereits 20 Runden lang die Fäuste gekreuzt. Damals war der explosive Joshua einer von zehn Sparringspartnern Klitschkos in dessen traditionellem Trainingsquartier beim Stanglwirt.

„Ich bin auf eine gesunde Weise besessen von dem Kampf“, sagt Klitschko, der mit einem Sieg in die Ruhmeshalle seines Sports einziehen könnte. Verliert er, droht die Boxerrente. In seiner Karriere hat der 41-Jährige bereits 358 Runden im Ring zugebracht. der 27-jährige Joshua dagegen musste nie länger als sieben Runden gehen. Während beide Boxer auf eine stabile Führhand, den Jab, setzen können und bisher keine außergewöhnlichen Nehmerqualitäten bewiesen haben, ist „AJ“ der eindeutig schlagstärkere und offensivere Athlet. „Die 17 Jahre, die Klitschko in WM-Kämpfen hinter sich hat“, sagt Anthony Joshua ohne Hochmut, „die habe ich noch vor mir.“