Die Alpengletscher sind gigantische Wasserreservoirs. Doch in besorgniserregendem Tempo schmelzen sie dahin – wie der größte Alpeneisschild, der Aletsch in der Schweiz. In einigen Jahrzehnten könnten sie ganz verschwunden sein.
Die Schweizer Gletscher erleben nach 2022 ein weiteres Extremjahr. In beiden Jahren zusammen ist das Gletschervolumen um rund zehn Prozent geschrumpft, wie die Schweizerische Kommission für Kryosphärenbeobachtung der Akademie der Naturwissenschaften am Donnerstag (28. September) berichtet. Damit sei innerhalb von zwei Jahren so viel Eis verloren gegangen wie insgesamt zwischen 1960 und 1990.
Dramatische Beschleunigung der Gletscherschmelze
„Die Gletscher der Schweiz schmelzen immer schneller. Die Beschleunigung ist dramatisch“, teilt die Akademie mit. Ursachen seien der extrem schneearme Winter 2022/2023 und die hohen Temperaturen im Sommer. Einige Gletscherzungen seien zerfallen und kleinere Gletscher verschwunden.
Selbst im südlichen Wallis und im Engadin, wo Gletscher auf mehr als 3200 Metern eigentlich noch intakt waren, sei in diesem Jahr eine Schneeschmelze von mehreren Metern gemessen worden.
Die Eisdicke sei im Durchschnitt aller Gletscher um circa drei Meter geschrumpft. Im Berner Oberland und in Teilen des Wallis – etwa am Großen Aletschgletscher – waren es etwa zwei Meter. Dort habe im vergangenen Winter mehr Schnee gelegen. Die Daten stammen vom Schweizerischen Gletschermessnetz (Glamos), an dem unter anderem die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich (ETH) beteiligt ist.
Tiefrekorde selbst oberhalb 2000 Meter
Laut den Analaysen hat besonders in der zweiten Februarhälfte teils so wenig Schnee gelegen wie nie zuvor um diese Zeit seit Beginn der Messungen. Die Schneehöhen betrugen im Durchschnitt nur noch 30 Prozent des langjährigen Mittels in dieser Zeitperiode.
Auch oberhalb von 2000 Metern hat es demzufolge in der zweiten Februarhälfte Tiefrekorde gegeben, und zwar bei mehr als der Hälfte der automatischen Stationen mit Messreihen, die vor mindestens 25 Jahren begannen. Weil es im Juni sehr trocken und warm war, sei der Schnee zwei bis vier Wochen früher geschmolzen als üblich, berichtet die Akademie.
Wetterdienste meldeten zudem Ende August, dass die Nullgradgrenze so hoch lag wie nie zuvor gemessen - nämlich bei fast 5300 Metern. Vereinzelte Sommerschneefälle seien deshalb meist rasch geschmolzen und hätten den Gletschern kaum dringend nötigen Schneenachschub geliefert.
Aletschgletscher schwindet in Rekordtempo
Auch der größte Gletscher der Alpen, der Aletsch, droht wegen des Klimawandels bis Ende des Jahrhunderts erheblich zu schrumpfen. Mit womöglich dramatischen Folgen, denn der Gletscher trägt mit seinem Schmelzwasser im Sommer im trockenen Rhonetal maßgeblich zur Wasserversorgung bei.
Seit dem Jahr 2000 habe sich die Zunge des Aletschgletschers um rund einen Kilometer zurückgezogen, berichten die Wissenschaftler Guillaume Jouvet und Matthias Huss von der ETH Zürich.
„Nur ein paar mickrige Eisfelder bleiben übrig“
Jouvet und Huss haben in einem dreidimensionalen Gletschermodell simuliert, wie sich die Eismassen bis Ende des Jahrhunderts entwickeln könnten – in Abhängigkeit davon, wie stark sich die CO2-Konzentration in der Atmosphäre und damit das Klima verändern. Selbst wenn die globale Erwärmung wie beim Pariser Klimagipfel vereinbart unter zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit gehalten werden kann und sich das Klima ab 2040 stabilisiert, setzt sich der Gletscherrückgang fort. „Sowohl beim Eisvolumen als auch bei der Länge müsste in diesem Fall mit einer Abnahme von mehr als 50 Prozent im Vergleich zu heute gerechnet werden“, erläutert Jouvet.
Nicht ausgeschlossen sei aber auch ein Szenario, in dem sich das Klima in der Schweiz bis Ende des Jahrhunderts um vier bis acht Grad im Vergleich zur Referenzperiode 1960 bis 1990 erwärmen wird. Dann seien im Jahr 2100 „nur noch ein paar mickrige Eisfelder übrig“, sagt der Forscher.