Die frühere Textilfabrik Leibfried im Stuttgarter Westen Foto: Peter Michael Petsch

Im Rahmen unserer Sommer-Serie „Stuttgarter Entdeckungen“ beschäftigen wir uns mit der Textilfabrik Leibfried in der Augustenstraße 124, in der von 1924 bis 1990 Mode produziert wurde. Später zog dort das Evangelische Medienhaus ein.

Stuttgart - Irgendetwas stimmt nicht am Evangelischen Medienhaus. Das Gebäude in der Augustenstraße 124 im Stuttgarter Westen wirkt wie eine alte Fabrik. „Das Büro hat erstaunlich große Fenster“, sagt Pfarrer Andreas Koch, „als ob den kirchlichen Redaktionen der weite Blick in die Welt geöffnet werden soll.“ Doch das Gesims über den Fenstern passt nicht. Wer genau hinschaut, erkennt Nähmaschinen und Garnrollen in Stuckarbeit – und die künden von einer anderen Art Religion. In welche rätselhafte Geschichte ist die Kirche hier verstrickt?

Für die Nachbarschaft ist die Antwort wie in Stein gemeißelt: Eine Textilfabrik war das hier! Ein früher mal ganz großes Unternehmen, und der Besitzer war ein sehr christlicher Mensch, lange auch Kirchengemeinderat, und er lebte nicht weit entfernt von hier im Westen. Sein Name: Leibfried. Rudi Leibfried. Nicht Rudolf, wohlgemerkt. Der Letzte einer Mode-Dynastie. Leider schon verstorben.

Die in Stein gehauenen Nähmaschinen scheinen die letzten Hinterlassenschaften der Leibfrieds zu sein. Allenfalls in Handelsregistereinträgen finden sich noch Leibfried-Bruchstücke als Teil von Konzern-Konstrukten. Was blieb von seiner Mode? Was blieb von einem Unternehmen, das einst in einer Liga spielte, in der man sich 1968 für die Einkleidung der deutschen Olympiamannschaft beworben hatte oder eine lukrative Lizenz für Jeans und Hemden des Modeschöpfers Pierre Cardin sein eigen nannte?

Frühere Verkäuferinnen bei Breuninger erinnern sich sehr wohl: Sportliche Herrenbekleidung der Marke Slopper oder Mister S – das gab es nur bei Breuninger. Hohe Qualität, gesundes Preis-Leistungs-Verhältnis. Und was bedeutet Slopper? Schulterzucken.

Wir nehmen den roten Faden im Jahre 1908 auf, als zwei Brüder einer 13-köpfigen Sindelfinger Leinenweberfamilie in Stuttgart in der Böblinger Straße eine Firma für die Fabrikation für Arbeitskleidung gründen: Karl Hermann und Eugen Leibfried, 22 und 19 Jahre alt. Ihr Kapital: zwei Nähmaschinen. Nach dem Ersten Weltkrieg steigt der dritte Bruder, Otto, ins Unternehmen ein. Bald kommt die Zeit, das Bekleidungsunternehmen nach neuesten fertigungstechnischen Grundsätzen zu betreiben.

Im März 1924 entsteht am Ende der Augustenstraße eine riesige Baustelle. Ein Straßenbahngleis wird abgezweigt, so wird der Transport von Erdaushub und Baumaterial abgewickelt. In neunmonatiger Bauzeit entsteht ein fünfgeschossiges Gebäude mit 5000 Quadratmeter Arbeitsfläche. Das Gesims wird mit Nähmaschinen-Stuck verziert. Stolz verkündet Karl Hermann Leibfried in einem Geschäftsbrief vom 17. November 1924: „Die Ausstattung meines neuen Fabrikanwesens mit allen für den rationellen Betrieb erforderlichen Anlagen gewährleistet beste und rascheste Lieferung bei billigster Preisstellung.“

Leibfried wächst zu einem bedeutenden Unternehmen der Bekleidungsindustrie in Süddeutschland. Vor dem Zweiten Weltkrieg sind mehr als 900 Mitarbeiter beschäftigt – nicht nur in der Augustenstraße 124. Fabriziert wird auch in der Lindenspürstraße im Westen und auf den Fildern in Plattenhardt. Der Krieg aber legt alles in Schutt und Asche. Aber keine Frage, dass Karl Hermann und Otto Leibfried das Unternehmen wieder aufbauen. Karl Hermann ist das Gesicht der Firma, seine Initialen werden zur Marke. Ka-Ha-El. Doch wer würde das Unternehmen langfristig weiterführen?

Karl Hermann hat seinen Sohn Rudi dafür vorgesehen. und der muss mit seinen vielen Ideen erst mal lernen, sich gegen die beiden strengen Überväter der Firma durchzusetzen. Otto hat keine eigenen Kinder – aber den Sohn seiner Schwägerin, der 1945 als Flüchtlingskind aus Pommern in Stuttgart gelandet war. Hellmut lernt von der Pike auf, wird 1951 von Onkel Otto adoptiert. Ein weiterer Leibfried, aber mit Doppelname. Auch er soll für die Geschäftsführung aufgebaut werden.

„Das wurde in der Familie natürlich nicht so gerne gesehen“, sagt Hellmut Leibfried-Behschnitt, den wir mit seiner Frau Margarete in Bad Cannstatt aufspüren. 1961 war er Prokurist geworden – und erlebte, wie die Globalisierung in der Textilindustrie ihren Anfang nahm. Hohe Löhne, fehlende Fachkräfte. Erst kommen spanische Näherinnen. Dann blickt man nach Jugoslawien: „Ich habe dort Arbeiterinnen in Zagreb und Belgrad angeworben“, sagt Leibfried-Behschnitt. Nähmaschinen wurden aufgebaut, um die Kandidatinnen zu testen. Bald geht es umgekehrt: Kleidung wird im kroatischen Rijeka hergestellt. In Stuttgart gibt es in den 80ern nur noch 125 Mitarbeiter.

Als die Patriarchen Ende 1970 kurz hintereinander sterben, übernimmt Rudi Leibfried die Geschäfte alleinig. Vetter Hellmut ist raus. „Er wollte allein entscheiden“, sagt der Geschasste, „er hatte ja gesehen, wie schwierig Entscheidungen in Abstimmung mit Vater und Onkel sein konnten.“ Sportliche Herrenbekleidung werden zum Renner. Beim 75-Jahr-Jubiläum 1983 verkündet Rudi Leibfried mit 28 Millionen Mark den höchsten Umsatz in der Firmengeschichte. Er folgt den neuesten Trends, sichert sich Lizenzen. Seine Exklusivität bei Breuninger ist schnell erklärt: Heinz Breuninger und Rudi Leibfried waren Cousins.

Rudi Leibfried sollte unter seinen Kindern keine Nachfolger finden. Der Ahlers-Konzern aus dem nordrhein-westfälischen Herford übernahm Leibfried. seine Marken und Lizenzen. 1990 wurde Haus Augustenstraße 124 textilfrei – das Unternehmen zog nach Calw um. Leibfried tauchte lange noch als Lizenznehmer für die Pierre-Cardin-Kollektion auf. Eine Name, in Stuttgart nur noch Schall und Rauch.

Wie Slopper. Hellmut Leibfried-Behschnitt weiß, was er bedeutet: „Das kommt von salopp“, sagt er. Die sportliche Kleidung sei „noch salopper als salopp“ gewesen: „Slopper eben!“ Wie sich der Kreis schließt: Dort, wo der 84-Jährige heute wohnt, stand früher eine Strickmaschinenfabrik.