Michael Geißler warnt davor, den Nachwuchs in der schulfreien Zeit von den Großeltern betreuen zu lassen. Foto: /Horst Rudel

Der medizinische Direktor des Klinikums Esslingen und renommierte Virologe sieht in Baden-Württemberg den Zeitpunkt für eine so weitreichende Entscheidung noch nicht gekommen. Besonders die Betreuungsfrage stehe nun im Mittelpunkt

Esslingen - Michael Geißler ist nicht nur ein renommierter Krebsforscher. Der Medizinische Direktor des Klinikums Esslingen zählt auch zu den bekanntesten Virologen im Land. Zu den am Dienstag in Kraft tretenden Schulschließungen hat er eine klare Meinung.

Herr Geißler, von Dienstag an werden auch in Baden-Württemberg die Schulen geschlossen. Ist diese Entscheidung aus medizinischer Sicht richtig?

Es gibt gute Gründe dafür, dass man Schulen schließen. Mir geht es in der Diskussion um die flächendeckende Ausrollung zum aktuellen Zeitpunkt. Ich halte den Zeitpunkt für eine solch einschneidende Maßnahme für noch nicht gekommen.

Womit begründen Sie diese Einschätzung?

Ich empfehle Schulschließungen in Regionen, in denen wir von einer hohen Durchseuchung der Bevölkerung ausgehen müssen, in denen wir – wie in Italien oder auch in Nordrhein-Westfalen – nachweislich viele Schwerkranke in den Kliniken und Intensivstationen haben. Das ist in Baden-Württemberg noch nicht der Fall.

Aber Esslingen ist doch der Landkreis mit der höchsten Zahl an Infizierten in Baden-Württemberg?

Esslingen ist momentan Vorreiter im Land. Dass es bei uns die meisten nachgewiesenen Corona-Fälle hat, liegt aber an den beiden Abstrichzentren in Nürtingen und an der Messe – und nicht daran, dass hier eine besonders starke Virusausbreitung stattgefunden hat. Die Tatsache aber, dass trotz der vergleichsweise hohen Zahl der Infizierten in den Krankenhäusern der Region noch nicht massenhaft schwerkranke Menschen mit Lungenentzündung liegen, die beatmet werden müssen, ist für mich ein Indiz, dass wir noch keine breite Durchseuchung wie in Italien haben. Wären Menschen schwer krank, würden sie in der Notaufnahme landen. Heute ist der Stand drei Todesfälle bei 454 Infizierten in Baden-Württemberg. Damit liegt die Letalitätsrate deutlich unter einem Prozent und entspricht dem Influenzavirus.

Wie viele Corona-Patienten muss denn das Klinikum Esslingen aktuell betreuen?

Wir haben bisher noch keinen einzigen schwerkranken positiven Fall gehabt, obwohl über unsere Notaufnahme 40 000 Kranke laufen.

Aber was spricht denn aus Ihrer Sicht dagegen, die Gefahren einer Ausweitung durch die Schulschließung zu verringern?

Es kommt darauf an, wann und wie man es macht. Schulschließungen führen in der Tat epidemiologisch bei vergleichbaren Viren zu einer Verlangsamung der Infektionsausbreitung von etwa zwei Wochen. Aber wenn man einfach die Schulen schließt und die Kinder jetzt zu Hause bleiben müssen, stellt sich doch die Betreuungsfrage. Man macht das ja auch deshalb, weil man inzwischen vermutet, dass viele Schülerinnen und Schüler, die keine Symptome haben, trotzdem das Virus in sich tragen können. Aber dann infizieren sie die Eltern zu Hause. Die gehen zur Arbeit und die Kids auf den Spielplatz: Auch da wird das Virus übertragen. Das Schlimmste aber, was passieren kann, ist, dass wegen der Schulschließung die Kinder nun großflächig zu den Großeltern geschickt werden. Die werden bekanntlich schwerer krank und haben eine 20-prozentige Sterblichkeitsrate. Wenn das geschieht, werden wir auf diese Weise die Krankenhäuser mit älteren Patienten fluten. Dann haben wir ein Problem, das wir eigentlich herauszögern wollten.

Die Betreuungsfrage stellt sich aber doch auch aus Arbeitgebersicht?

Was wir dringend brauchen, ist ein Plan der Politik für die Frage, wer die Kinder von berufstätigen Eltern systemkritischer Bereiche wie Krankenhäuser, Feuerwehr, Rettungsdienste oder Polizei betreut. Da habe ich in Baden-Württemberg noch nichts gehört. Wenn am Dienstag die Schulen geschlossen werden, werden in den Kliniken dutzende Pflegekräfte und Ärzte aufgrund der fehlenden Kinderbetreuung nicht zur Arbeit kommen, mit der Folge, dass die Handlungsfähigkeit verschlechtert wird – und dies am Beginn einer exponentiellen Virusausbreitung in Deutschland.

Was würde das für die Arbeit bedeuten?

Wenn wir allein gelassen werden und plötzlich die Mitarbeiter nicht mehr haben, müssen wir zwangsläufig priorisieren. Dann werden wir bestimmte Bereiche für die Normalversorgung schließen müssen, damit die Bereiche, wo es schwerkranke Patienten gibt, weiterlaufen.

Wie gefährlich ist das Coronavirus?

Viren haben generell eine hohe Ausbreitungsrate Das Coronavirus ist dabei etwas kontaminöser als beispielsweise das Influenzavirus. Normalerweise geht man bei einer Grippe davon aus, dass ein Infizierter eine andere Person ansteckt. Bei Sars-Cov-2 infiziert nach den bisherigen Erkenntnissen ein Patient zwei bis zweieinhalb andere Menschen. Aber zum Vergleich: bei Masern liegt der Faktor bei 30.

Hätte es nicht auch noch andere Möglichkeiten als die Schulschließungen gegeben, um den Verlauf zu verzögern?

Klar ist: Wer krank ist, bleibt zu Hause oder geht nach Hause. Eine Alternative wäre aber zum jetzigen Zeitpunkt oder früher gewesen, dass die Gesundheitsämter Schulungen durchführen. Es gibt gute Studien, die zeigen: Wenn die Schüler und Lehrer darin geschult werden, dass sie nur in den Ellenbogen niesen, nach der Toilette oder grundsätzlich 20 Sekunden die Hände mit Seife waschen und vielleicht auch Desinfektionsmittel benutzen, dann ist eindeutig die Neuinfektionsrate und die Erkrankungsrate signifikant geringer, mehr als 50 Prozent.

Das wäre doch ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung gewesen?

Richtig, denn in der Tat ist es das Hauptziel des aktuellen Handelns, die Ausweitung nicht zu verhindern, sondern sie zu verzögern, damit das Gesundheitssystem nicht überlastet wird.

Rechnen Sie damit, dass das deutsche Gesundheitswesen an seine Grenzen stößt?

Wenn wir diese Infektionen über vier, fünf Monate strecken, dann werden wir mit unserem hoch effizienten Gesundheitssystem sicherlich eine Durchseuchung der Bevölkerung von 60 bis 70 Prozent stemmen können. Das geht aber auf Kosten der Behandlung von anderen Erkrankungen. Das Gesundheitssystem geht sicher an die Belastungsgrenze.

Muss man sich darauf vorbereiten, dass dieser Sommer ausfällt?

Ich bin kein Hellseher. Es gibt seriöse Forschungen, mathematische Modellrechnungen und epidemiologische Studien aus den USA und aus Europa, die als ein sehr wahrscheinliches Szenario vorhersagen, dass in Deutschland der Gipfel der infizierten Menschen im Juli und August erreicht wird. Es kann also sein, dass wir uns noch mehrere Monate in diesem Ausnahmezustand befinden, egal, was wir tun. Auch danach werden wir noch bis in den Winter Sars-Cov-2-Fälle haben. Es kann aber auch sein, dass wir den Peak schon im Juni erreichen – es kann auch schneller oder langsamer verlaufen. Wirklich wissen kann das keiner, weil uns über das Virus noch zu viele Informationen fehlen.