Beim Kitafit-Programm sind Kita-Kinder mit Eifer bei der Sache Foto: Pressefoto Baumann

Diskutieren Sie mit - Kinder können nicht gut auf einem Bein stehen, und zwar unabhängig von Herkunft oder Freizeitbeschäftigung. Dies ist das Ergebnis einer Studie des Sportamts. Sie beweist aber auch, dass Sport in Kitas Stubenhockern auf die Sprünge hilft.

Stuttgart - Kinder, die in bürgerlichen und gutbürgerlichen Haushalten leben, treiben viel Sport im Verein und sind motorisch fit bei der Einschulung. Kinder, die in Haushalten aufwachsen, die auf Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld angewiesen sind, gehören keinem Verein an und haben bei der Einschulung motorische Defizite. Diese Behauptung steht schon lange ungeschützt im Raum – die Kitafit-Studie des Sportamts und der Universität Stuttgart belegt jetzt: Es gibt tatsächlich Unterschiede, aber nicht unbedingt die erwarteten.

Kita-Kinder aus sozial eher problematischen Wohngebieten besitzen deutlich bessere Ballfertigkeiten, obwohl die wenigsten in einem Sportverein Mitglied sind. Kinder aus gutbürgerlichem Milieu sind tatsächlich öfter vereinsaktiv und haben grundsätzlich eine bessere Feinmotorik als die Vergleichsgruppe. Unabhängig von der Herkunft aber ist bei allen Kindern die Fähigkeit unterentwickelt, ihr eigenes Gleichgewicht auf einem Bein zu halten. „Schon im Alter von drei bis sechs Jahren zeigt sich, dass Lebensstileffekte sich stark negativ auf die Gleichgewichtsfähigkeit der Kinder durchschlagen“, heißt es im vorläufigen Abschlussbericht. Gemeint sind das Mama-Taxi und das zu häufige Sitzen im Kinderwagen.

Regelmäßige Bewegung behebt Defizit

Dieses Defizit kann laut Sportverwaltung bis zur Einschulung behoben werden. Den Nachweis führen sechs Tageseinrichtungen in Stuttgart: Dort wurden die Erzieherinnen in Schulungen darauf vorbereitet, wie man die motorischen Fähigkeiten bei Kindern fördern kann. „Seit 2012 sind 100 Erzieherinnen jeweils 72 Stunden lang über 15 Monate verteilt geschult worden“, erläutert Jugendamtsleiter Bruno Pfeifle. Auf diese Weise wurden innerhalb von neun Monaten in den Bereichen Fangen und Werfen sowie der Gleichgewichtsfähigkeit starke bis sehr starke Verbesserungen erzielt.

Die Kitafit-Studie ist vom Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften unterstützt und wissenschaftlich begleitet worden. Die Wissenschaftler um Professorin Nadja Schott kamen zu dem Ergebnis, dass „die negative Entwicklung umgekehrt werden kann“, wenn die Bewegungsförderung konsequent bei Zweijährigen beginnt und bis zur Einschulung anhält. Daraus zog die Stadt Stuttgart die Konsequenzen und befürwortete die flächendeckende Einführung des Programms Kitafit. Der Gemeinderat hat im Rahmen der Haushaltsplanberatungen ebenfalls zugestimmt und aus dem Projekt die Regel gemacht. Die bisherigen Mittel in Höhe von jährlich 60 000 Euro wurden auf 100 000 Euro aufgestockt. Laut Bruno Pfeifle müssen nicht alle Erzieherinnen an den Schulungen teilnehmen: „Unser Ziel ist es, dass in jeder unserer 186 Kitas eine Erzieherin geschult wurde und dort als Multiplikatorin andere unterrichtet.“

Ein Pass für alle Fähigkeiten

Die Fortschritte, die Kinder machen, werden in einem Bewegungspass dokumentiert. Er belegt, welche Fertigkeiten das Kind schon beherrscht. Hat es alle Aufkleber beisammen, bekommt es ein Drachenabzeichen, ähnlich dem Seepferdchen beim Schwimmen. „Der Pass soll ab September ausgegeben werden“, sagt Andi Mündörfer vom Sportamt der Stadt. Wichtig sei, dass auch die Vereine mitmachten und den Pass der Kinder aktualisierten. Als Idee steht außerdem im Raum, dass auch das Gesundheitsamt den Pass ausgibt, und zwar an die Eltern bei der Einschulungsuntersuchung. Damit hätte der Pass eine große Streuung, denn jährlich werden in Stuttgart rund 5000 Kinder eingeschult.

Mit dem Kitafit-Programm erfüllt die Stadt genau jene Forderungen, die im dritten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht der Bundesrepublik gefordert werden. Dort wird der Qualifikation der Erzieherinnen für die Bewegungsförderung in der frühkindlichen Bildung große Bedeutung beigemessen, größere jedenfalls als der räumlichen Ausstattung. Die Förderung sei am größten, „wenn das gesamte Personal eine bewegungsfreundliche innere Haltung hat und über die entsprechenden Kenntnisse verfügt“, heißt es im Bericht.

Grundschulen fehlen Sportprofis

Nachholbedarf sieht das Sportamt bei den Grundschulen; dort wird Sport überwiegend fachfremd unterrichtet. „Im Extremfall hat ein Kind also bis zum zehnten Lebensjahr keinen einzigen Bewegungspädagogen zu Gesicht bekommen“, sagt Andi Mündörfer. Da die Lehrereinstellung und -verteilung Angelegenheit der Kultusverwaltung beim Land ist, hat die Stadt keinen Einfluss auf das Kollegium. Eine Chance für professionellen Sport während der ersten vier Schuljahre bietet allerdings die Ganztagsschule. Der Umbau der Grundschulen zu Ganztagsschulen ist seit dem Jahr 2007 im Gang, vergangenen Herbst war bereits rund die Hälfte aller 72 Stuttgarter Grundschulen als Ganztagsschule am Start. Die meisten Schulen kooperieren während der unterrichtsfreien Phasen im Lauf des Tages mit zahlreichen außerschulischen Einrichtungen, auch mit Sportvereinen. Zum Einsatz an Schulen – so sieht es das Ganztagskonzept vor – sollen mindestens Übungsleiter kommen. Wenigstens auf diese Weise kann die Stadt den Mangel ausgleichen und den Bewegungspass dazu nutzen, die Kinder beim Übergang von Kita zur Schule einheitlich zu fördern.

Kitas fangen Defizite der Bewegungsmuffel auf

Kommentar von Barbara Czimmer-Gauss

Stuttgart - Dicht bebaute Wohnviertel, viel Verkehr vorm Haus, das Mama-Taxi zu Kita und Schule – viele Faktoren sind verantwortlich für mangelnde Bewegungsfähigkeit bei Kindern. Der Einfluss auf manche davon ist begrenzt. Deshalb war es richtig, dass die Stadt die Kitafit-Studie in die Wege geleitet hat und nun erstmals belastbare Ergebnisse in der Hand hat: den Beweis für Defizite ebenso wie den Beweis, dass die Bewegungsförderung in Kindertagesstätten Wirkung zeigt.

Auf dieser Basis ist es folglich richtig, das Programm auf alle Kitas auszudehnen, denn es ist zudem wissenschaftlich belegt, dass motorische Defizite mit Lernproblemen einhergehen. Das frühe Eingreifen erspart ein spätes böses Erwachen.

Dem Kitafit-Programm ist ein längeres Leben zuzutrauen als anderen Versuchen, die es auf diesem Feld bisher gab. Zum Beispiel hatte Stuttgart im Jahr 2006 den Fohlenpass mit großem öffentlichem Wirbel eingeführt. Eine wissenschaftliche Begleitung hielt man nicht für nötig. Heute soll er kaum noch in Umlauf sein.

Bei aller Förderung in Kitas – auch Eltern müssen ihren Teil beitragen. Das ist gar nicht schwer. Auch hier helfen das gute Vorbild, zum Beispiel am Wochenende, und der gemeinsame Weg zu Fuß zur Kita sowieso.