Andreas Barner (links), Präsident des 35. Evangelischen Kirchentages und Ellen Ueberschär, die Generalsekretärin des Kirchentages, mit einem überdimensionalen Programmheft des Kirchentags. Foto: dpa

Zum vierten Mal nach 1952, 1969 und 1999 findet der Deutsche Evangelische Kirchentag in Stuttgart statt. Das 35. Protestanten-Treffen hat sich ganz der Suche nach Weisheit verschrieben.

Stuttgart - Wäre Gertrud Stauffacher Schwäbin, würde man sagen, sie sei „ a Cleverle“. Eine, die Bescheid weiß, sich auskennt, den Durchblick hat. „Der kluge Mann baut vor“, rät sie ihrem Ehemann, dem Bauern Werner Stauffacher in Friedrich Schillers Drama „Wilhelm Tell“. Der solle sich den Bauern des Kantons Uri im Kampf gegen den neuen Reichsvogt Gessler anschließen, bevor es zu spät sei. Aber Frau Stauffacher ist Eidgenössin und spricht Schwizerdütsch. Also ist sie gfitzt, was so viel wie bedeutet wie g’scheit.

Gefitzt, cleverle oder g’scheit

Die Macher des 35. Deutschen Evangelischen Kirchentages setzten noch eins drauf. Nur cleverle zu sein, reiche nicht aus. Man müsse vor allem klug werden. „Cleverle hat keinen Vorteil“, sagt die Generalsekretärin des Kirchentages, Ellen Ueberschär. „Klugwerden, das bleibt ein lebenslanger gemeinsamer Lernweg.“

Kirchentage sind protestantische Großereignisse, die alle zwei Jahre stattfinden. Der letzte war in Hamburg, der nächste findet in Berlin statt. In diesem Jahr ist Stuttgart vom 3. bis 7. Juni Gastgeber. Wie es sich für ein frommes Spektakel gehört, gibt es auch einen Wahlspruch – im protestantischen Kirchensprech „Losung“ genannt.

„Damit wir klug werden“ ist die diesjährige Losung, die Psalm 90, Vers 12 entnommen ist: „Gott, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, damit wir klug werden.“

Losungen der Kirchentage

Losungen sind Verse, die aus dem biblischen Alten Testament stammen. Insgesamt gibt es einen Kanon von 1824 Versen, die Christen aller Konfessionen als Leitwort und Gedanke für den Tag dienen sollen. Sie werden herausgegeben von der Herrnhuter Brüdergemeinde, einer überkonfessionell-christlichen Glaubensbewegung, welche stark von der Reformation und dem Pietismus geprägt ist. Ihren Hauptsitz hat diese weltweite Bewegung, die aus 19 selbstständigen Kirchen besteht, in Herrnhut in der sächsischen Oberlausitz sowie im baden-württembergischen Bad Boll.

„Damit wir klug werden“. Das klingt nach Bildungsbürgertum. Weit gefehlt. „Diese Losung ist keine arrogante Empfehlung der Gebildeten an alle anderen. Hier geht es nicht darum, den bildungsbürgerlichen Kanon zu beherrschen“, erklärt die evangelische Theologin Ueberschär, seit 2006 Generalsekretärin des Kirchentages mit Sitz in Fulda. „Das WIR in Psalm 90 weist vielmehr auf einen gemeinsamen Lernweg. Nicht ICH zähle meine Tage, sondern WIR begeben uns gemeinsam in die Schule Gottes, den Lehrer des Lebens.“

Zu jedem Kirchentag gehört – wie bei seinem Pendant, dem Katholikentag – die pathetisch-entrückte Sprache. Feierlich und fromm soll sie rüberkommen, damit jeder gleich merkt: Hier geht es um mehr als nur ums Cleverle-sein. Wer ans Kreuzerle verdienen denkt, ist gewieft, gerissen, schlau oder ausgebufft. Aber klug ist er deshalb noch lange nicht.

„Mit 40 wird man endlich g’scheit“

Der württembergische Landesbischof Frank Ottfried July gibt Nachhilfe in schwäbischer Dialektik: „In Schwaben ist klar: ‚Mit 40 wird man endlich g’scheit.“ Wer klug sein will, brauche ein „weises Herz“. Und dafür müsse man eben glauben. „Klug werden heißt, zu wissen, dass unser Leben von Gott kommt und zu Gott geht.“

„Die kürzeste Definition von Religion ist Unterbrechung“, sagt der katholische Theologe Johann Baptist Metz. Wer zu Kirchentagen pilgert, will den atemlosen Alltagstrott unterbrechen. Will pausieren, innehalten, nachdenken, zur Ruhe zu kommen, aufatmen. Das macht den besonderen Reiz dieser Mammuttreffen aus. Doch wie bitteschön soll man bei mehr als 2000 Veranstaltungen, rund 300 000 erwarteten Gästen am Eröffnungsabend und dem ganzen Trubel in der Stadt zur Ruhe kommen?

Kirchentage sind wie ein Wundertüte. Wer sucht, der findet in diesen fünf Tagen von allem etwas: Diskussion und Gebet, Fete und Stille, Sacro-Pop und Kirchen-Choral. „Unsere Kirchentags-Losung steht für Unterbrechung“, betont Bischof July. „Sie fordert uns auf, in unserem Leben, in den Routinen, im täglichem Hamsterrad, auf der Überholspur einen Gang – oder mehrere – zurückzuschalten.“

Klugheit und Glaube

Für Christen ist der Glaube Quelle der Klugheit. Wer klug ist, wisse um die Endlichkeit des Lebens, sagt Ellen Ueberschär. Er sei auch weise genug um zu wissen, dass Klugheit nur gemeinsam zu lernen sei. Keine Kirche habe die Klugheit auf ihrer Seite, um andere zu belehren. „Wir sind nicht klug. Wir können es gemeinsam werden!“

Deshalb habe Klugheit auch „Prozesscharakter“, ergänzt Kirchentags-Präsident Andreas Barner, der im Hauptberuf Vorsitzender der Unternehmensleitung des Pharmariesen Boehringer Ingelheim ist. „Die Losung drückt die Begrenztheit des Lebens aus und damit die Aufforderung bewusst zu leben. Klug werden heißt aber auch Zuhören, sich Zeit für den anderen nehmen.“

Seit der Antike wird die Klugheit zu den Kardinaltugenden gezählt. Sie sind Dreh- und Angelpunkt ethischen Handelns. Der römische Philosoph, Politiker und Rhetor Marcus Tullius Cicero machte im Ersten Jahrhundert v. Chr. die Lehre von den vier Haupttugenden im alten Rom populär. In seiner Schrift „De officiis“ (Über die Pflichten) nennt er vier Tugenden: Weisheit oder Klugheit (sapientia oder prudentia), Gerechtigkeit (iustitia), Tapferkeit (fortitudo) und Mäßigung (temperantia).

Kardinaltugenden und Yamas

Die Lehre von den Grundtugenden ist Teil des universalen moralischen Kanons. Im alten China lehrte man die fünf konfuzianischen Kardinaltugenden: Menschlichkeit (rén), Gerechtigkeit (yì), Sitte (li), Wissen (zhì) und Wahrhaftigkeit (xìn).Im Hinduismus handelte man nach dem Verhaltenskodex der „Fünf Yamas“: Ahimsa (Gewaltlosigkeit), Satya (Wahrhaftigkeit), Asteya (Nicht-Stehlen), Brahmacharya (Enthaltsamkeit) und Aparigraha (Nicht-Zugreifen).

Klug handelt, wer die Absicht hat, das ethisch Gute und Richtige zu tun. Wer verschlagen, gerissen und tückisch nur den eigenen Nutzen im Blick hat, sucht seinen persönlichen Vorteil, nicht aber das Wohlergehen aller. Die gute Absicht allein genügt aber nicht, um Gutes zu tun. Wer tugendhaft handeln will, muss auch über die nötige praktische Vernunft verfügen.

Klug und praktisch veranlagt muss auch derjenige sein, der sich für Nachhaltigkeit einsetzt. Wie schon bei den vorangegangen Christentreffen ist sie auch diesmal wieder ein Leitmotiv. Barner: „Langfristiges Denken auch in wirtschaftlichen Fragen – dieses Thema drängt für einen Kirchentag gerade in Stuttgart auf.“

„Ens Ländle kommat“

Apropos Stuttgart: Pfarrer Thomas Oesterle aus Schorndorf schreibt über die Losung des 35. Kirchentages: „Damit oiner a Käpsele wird, a Cleverle, a Gscheidle, dozu ischs guat, wenn möglichst viele Leit beim Kirchatag zu ons ens Ländle kommat, weil Käpsela – des fendet mr bei ons en Haufa!“

Abbr obach gäa! Wer meint, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben, ist nicht mit Klugheit gesegnet. Das wusste schon der antike Philosoph Sokrates (469-399 v. Chr.): „Klug ist, wer weiß, was er nicht weiß.“

Motto der Kirchentage

Seit 1949 schlägt der Deutsche Evangelische Kirchentag in der Regel alle zwei Jahre seine Zelte in einer Großstadt auf. Wie Katholikentage und Ökumenische Kirchentage sind sie Seismografen der Zeit. Neben religiösen Themen stehen aktuelle politische und gesellschaftliche Fragen wie die Flüchtlings-, Umwelt- oder Sozialpolitik im Mittelpunkt.

Der Kirchentag versteht sich als Bewegung evangelischer Laien, die institutionell unabhängig ist von den Kirchen.

Jedes dieser Mega-Treffen hat ein eigenes Motto, das sich wie ein roter Faden durch alle Veranstaltungen zieht. „Wählt das Leben“ war die Losung des vierten Protestantentreffens, das 1952 erstmals in Stuttgart stattfand. Es folgten der 14. Kirchentag („Hungern nach Gerechtigkeit“) 1969 und der 28. Kirchentag („Ihr seid das Salz der Erde“ 1999, ebenfalls in Stuttgart.