Wäre die Katholische Kirche eine Demokratie, hätten Taufscheinchristen die absolute Mehrheit im Parlament. In Wirklichkeit haben sie nichts zu sagen.
Stuttgart - Das Internet ist eine tolle Sache. Nirgends sonst kann man so ausgiebig und ungestört stöbern. Für jeden Geschmack hält das www. etwas bereit. Ein Beispiel? Auf den Online-Seiten der Österreichischen Nationalbibliothek findet sich eine Ausgabe der Innsbrucker Nachrichten vom 13. Februar 1911. Dort ist nachzulesen, was der damalige Brixener Bischof Joseph Altenweisel über sogenannte Taufscheinchristen dachte. Also jenen Katholiken, die als Baby das Sakrament der Taufe empfangen haben, offiziell zur Kirche gehören und sich selbst als Christen bezeichnen, aber nicht mehr an wesentliche Teile der Lehre glauben und ein eher unchristliches Leben führen.
Seine Exzellenz über Taufscheinchristen . . .
„. . . daß gar viele Katholiken nur mehr Taufscheinchristen sind, welche von der katholischen Religion nur mehr den Namen besitzen und der heiligen Kirche höchstens noch äußerlich angehören. Wie diese Katholiken – und ihre Zahl ist eine erschreckend große – sind am Prachtbau der Kirche geborstenes und abbröckelndes Gemäuer, sie sind am Leibe der Kirche wie kranke, absterbende oder schon erstorbene Glieder.“
Heutzutage bemühen sich die Hochwürden um versöhnlichere Töne. Die Zeiten, in denen sie im Stile eines Bischofs Altenweisels den Halbherzigen und Laxen mit Verdammnis und Höllenfeuer drohen konnten, sind vorbei. Was bleibt ihnen auch anderes übrig. Laut Kirchenstatistik besuchen durchschnittlich knapp elf Prozent der Katholiken einen Sonntagsgottesdienst (bei den Protestanten sind es 3,7 Prozent) – je nach Feiertag und Wetterlage. Und der Rest? Die Mehrheit der 24,3 Millionen Katholiken und 23,4 Millionen Protestanten in Deutschland sieht eine Kirche nur bei besonderen Anlässen wie Taufe, Kommunion oder Konfirmation von innen. Die Verkünder der Frohen Botschaft müssen froh sein über jeden, der mal vorbeischaut und mitfeiert.
Wer sind „die Gläubigen“?
Wen meinen die kirchlichen Offiziellen eigentlich, wenn sie von „den Gläubigen“ sprechen? Die knapp 90 Prozent, die schon mit einem Bein draußen stehen? Wenn die Bischöfe im Oktober auf ihrer Familiensynode wieder über Moral und Unmoral debattieren, ist auch diese schweigende Mehrheit gemeint, obwohl sie sich gar nicht angesprochen fühlt. Dass sich die Neunzehntel Taufscheinchristen an die rigiden kirchlichen Gebote und Verbote halten – kein Sex vor der Ehe haben, nach der Scheidung keusch sind und auch in anderen Dingen des Lebens der klerikalen Obrigkeit folgen –, davon ist nicht auszugehen.
Der Glaube verdunstet – und mit ihr die Kirche
Fakt ist: Die Kirchenbindung in Deutschland erodiert, das Glaubensleben erlahmt, das christliche Profil in der Gesellschaft verblasst. 2014 haben die Kirchenaustrittszahlen einen neuen Rekordstand erreicht: 217 716 Menschen haben im vergangenen Jahr die Katholische Kirche verlassen. So viele wie noch nie in einem Jahr. Bei den Protestanten sieht es noch düsterer aus. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Standfesten bleiben und nur die „Karteileichen“ gehen. Es gibt kein „Gesundschrumpfen“, die Spreu trennt sich nicht vom Weizen. Stattdessen ist es so, wie der Theologe Karl Rahner einmal sagte: Der Glaube verdunstet – und mit ihr die Kirche.
Brecht die Steine aus dem abbröckelnden Gemäuer!
Was die Katholische Kirche braucht, ist ein Neuanfang und kein Neuaufguss alter Lehren. Ein Perspektivwechsel hin auf die 90 Prozent der Kirchenmitglieder, die nie oder nur noch selten in die Messe gehen, vom christlichen Glauben immer weniger wissen und (noch) nicht ausgetreten sind. Ihnen muss sich die Kirche jetzt zuwenden. Niemand verlangt, dass gleich ganze Bastionen geschliffen werden. Aber man könnte damit beginnen, die ersten Steine aus dem „abbröckelnden Gemäuer“ herauszubrechen.
Kirchenträume – und was davon geblieben ist
Vor 33 Jahren veröffentlichte der katholische Theologe Norbert Lohfink ein immer noch lesenswertes Büchlein mit dem verheißungsvollen Titel: „Kirchenträume. Reden gegen den Trend“. Beim Reden über den Trend ist es bis heute geblieben – beim Träumen auch.