Eine Toilette für jeden – Mann, Frau und andere sexuelle Identitäten. Foto: Unisex/Fotolia

Sexualität ist „unverschämt schön“ – homosexuelle genauso wie heterosexuelle. Das finden die Autoren einer Denkschrift zur evangelischen Sexualethik – ein Plädoyer für mehr Offenheit.

Stuttgart - Toleranz ist der Humus jeder Gesellschaft. Ohne Akzeptanz des Anderssein, ohne Wertschätzung fremder Lebensentwürfe kann es kein gedeihliches Miteinander geben. Das gilt vor allem für nicht-heterosexuelle Biografien. Dass schwule und lesbische Paare die gleichen Rechte und Pflichten haben wie heterosexuelle Paare müsste eigentlich selbstverständlich sein – ist es aber nicht. Vor allem in den beiden großen Kirchen gibt es immer noch teilweise massive Widerstände gegen die völlige Gleichstellung von Homos mit Heteros.

Die Evangelische Kirche prescht voran

Die Evangelische Kirche ist in dieser Frage allerdings deutlich weiter als die Katholische, die Homo-Paaren kategorisch den kirchlichen Segen verweigert. Gleichgeschlechtlich lebende Pfarrer und Pfarrerinnen können seit wenigen Jahren in evangelischen Pfarrhäusern zusammenleben – wenn auch nicht in allen Landeskirchen. Die pietistisch geprägte württembergische Kirche lässt solche Beziehungen nur in Einzelfällen im Pfarrhaus zu. Während in der badischen Landeskirche Segnungen von gleichgeschlechtlichen Paaren möglich sind, ist es im benachbarten Württemberg offiziell nicht erlaubt. „Wir haben keine öffentliche Segnung von gleichgeschlechtlichen Paaren“, hatte Landesbischof Frank Otfried July vor dem Kirchentag im Juni in Stuttgart gesagt. Er wolle niemandem den persönlichen Zuspruch verweigern, aber die Institutionalität der klassischen Ehe gelte es zu schützen.

Im vergangenen Jahr hatte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Arbeit an einem umstrittenen Papier zur Sexualethik gestoppt. Die Gräben zwischen Konservativen und Liberalen waren zu tief, die Gefahr von Zerwürfnissen zu groß. Die letzte evangelische Denkschrift zu Fragen der Sexualität ist immerhin mehr als 40 Jahre alt. Seitdem hat sich einiges getan in deutschen Schlafzimmern. Die Autoren der Denkschrift wollten trotz des offiziellen Neins nicht auf die Veröffentlichung verzichten. Seit dem 24. August ist ihr Buch „Unverschämt schön. Sexualethik: evangelisch und lebensnah“ erhältlich (Gütersloher Verlagshaus, 176 Seiten, 14,99 Euro).

Biedert sich die Kirche dem Zeitgeist an?

Biedern sich die Protestanten dem Zeitgeist an, wie konservative Kreise argwöhnen. Peter Dabrock, Renate Augstein und die anderen Autoren sehen in der Öffnung der Kirche eine Trendwende. „Zweifellos folgt auch dieses evangelische Bemühen, Menschen mit anderer sexueller Orientierung freundlich in der Gemeinde willkommen zu heißen, dem gesellschaftlichen Zeitgeist. So mancher Kritiker wirft der evangelischen Kirche vor, sich damit billig der Gesellschaft anzubiedern, was kurzschlüssig ist. Denn sofern hoffentlich auch im Zeitgeist der Heilige Geist wehen kann, lässt sich diese Veränderung auch als Zeichen einer ethisch verantworteten Neubewertung verstehen.“

Die Verbindung der Wörter Zeit und Geist weist auf Fundamentales hin: Im Zeitgeist zeigen und zeitigen sich die Zeichen der Zeit. Sie müssen die Kirchen erkennen, denn in ihnen offenbart sich das Wirken Gottes. Dass jedes liebevolle, fürsorgende Miteinander unter Gottes Segen steht, ist theologisch eine Selbstverständlichkeit. Verantwortungsvolle Liebe kennt keine Geschlechter-Grenzen. Deshalb heißt es auch in „Unverschämt schön“ so treffend: „Vermeintliche heterosexuelle ‚Normalbiografien‘ dürfen, wie immer mehr evangelische Christinnen und Christen finden, auch in der evangelischen Kirche nicht zum Maßstab für das Angebot der geglaubten Zusage und des Segens Gottes gemacht werden.“

Der Kirchentag ist weiter als die Kirche

Auf dem Stuttgarter Kirchentag bekannte sich die Evangelische Kirche deutlich zur umstrittenen sexuellen Vielfalt. Und das war gut so! Erstmals auf einem Kirchentag gab es ein Gender- und Regenbogen-Zentrum. Den Pietisten ging das zu weit, den Vertretern der Offenen Kirche nicht weit genug. Aber die „Trendwende in der evangelischen Landschaft“ ist unverkennbar und nicht mehr aufzuhalten, schreiben die Autoren. Auch nicht – muss man hinzufügen – durch ein von oben verordnetes Ende der Diskussion. „Der meist sehr lautstarke Protest von konservativer oder evangelikaler Seite lässt diese Trendwende öffentlich nicht immer so deutlich wie möglich werden – aufhalten kann sie sie freilich nicht.“

Und das ist gut so!