Was Katholiken in ihrem Schlafzimmer machen, geht niemanden etwas an - außer die Kirche, sagt der Vatikan. Die kirchliche Morallehre regelt die Sexualität genauso wie Familienleben oder Erziehung. Ob und wie die Sexualmoral reformiert werden kann, darüber entscheidet in Rom eine Weltbischofssynode.
Stuttgart - Haben die Kirchen zum Thema Sexualität noch etwas zu sagen? Ganz viel, werden evangelische und katholische Würdenträger ohne Zögern antworten. Andere sind da zurückhaltender. „Die evangelische Kirche hat die Deutungshoheit über die Betten verloren“, meint etwa der evangelische Sozialethiker Peter Dabrock, Professor für Systematische Theologie an der Universität Erlangen-Nürnberg. Man könnte auch generell sagen: Die Kirchen haben die Deutungshoheit über die Betten verloren. Die Protestanten – und die Katholiken sowieso.
Zweite Runde der Familiensynode im Vatikan
Vom 4. bis zum 25. Oktober lädt Papst Franziskus die Bischöfe der Welt zum zweiten Mal zur Familiensynode nach Rom ein. Vergangenen Herbst hatten die Oberhirten schon einmal kontrovers über die Themen Ehe und Familie, Homosexualität und Scheidung diskutiert. Eine vom Vatikan 2013 gestartete Umfrage über Ehe und Familie, zur Vorbereitung für die Bischofssynode im Oktober 2014, kam zu dem Ergebnis: „Die kirchlichen Aussagen zu vorehelichem Geschlechtsverkehr, zur Homosexualität, zu wiederverheirateten Geschiedenen und zur Geburtenregelung, finden bei den Gläubigen kaum Akzeptanz und werden überwiegend ausdrücklich abgelehnt.“ Ein zweiter, in diesem Frühjahr verschickter Fragebogen bestätigte nur noch die großen Dissonanzen zwischen Hierarchen und Gläubigen.
Der Münchner Kardinal Reinhard Marx warnt vor zu hohen Erwartungen an die Synodalen. Es werde „nicht einfach und ein langer Weg sein, zu den Themen Ehe, Familie und Sexualität etwas global Verbindliches zu sagen“. Der Osnabrücker Bischof Franz-Josef Bode – neben Marx und dem Berliner Bischof Heiner Koch einer der drei deutschen Synodenteilnehmer – befürchtet Lagerkämpfe. Beim Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen und Homosexuellen seien sich die Oberhirten uneins. Man dürfe in diesen Lagern aber nicht verharren, mahnt Bode.
Konservative wollen an althergebrachter Sexualmoral festhalten
Für den deutschen Kurienkardinal Gerhard Ludwig Müller, den mächtigen Präfekten der Römischen Glaubenskongregation, muss die Weltbischofssynode vor allem eine Vertiefung der katholischen Ehelehre bringen. Aufbruch? Öffnung? Reform? Nichts da! Die Konservativen um Müller haben sich die Absegnung der guten alten Sexualmoral auf ihre Fahnen geschrieben.
Den Protestentanten ergeht es in Sachen Sex nicht viel besser. Im vergangenen Jahr hatte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) die Arbeit an einem umstrittenen Papier zur Sexualethik gestoppt. Die Gräben zwischen Konservativen und Liberalen waren zu tief, die Gefahr von Zerwürfnissen zu groß. Die letzte evangelische Denkschrift zu Fragen der Sexualität ist immerhin mehr als 40 Jahre alt. Seitdem hat sich einiges getan in deutschen Betten. Die sexuelle ist durch die neosexuelle Revolution abgelöst worden.
Auf die sexuelle folgt die neosexuelle Revolution
Neosexuelle Revolution – dieser Begriff steht für den tief greifenden kulturellen Wandel der Sexualität und der Sexualmoral. Wer bin ich? Welche sexuelle Identitäten habe ich? Welche sexuellen Verhaltensweisen sind die meinen? Es sind Fragen wie diese, die das Verhältnis zur Sexualität prägen. Kennzeichnend für das Neue an dieser Entwicklung ist die zunehmende Akzeptanz der Vielfalt sexueller Ausdrucksformen: Bisexualität, Fetischismus, Gruppensex, Homosexualität, Pornografie, Selbstbefriedigung, selbstbestimmte Sexualität von Jugendlichen, Transgender und Transsexualität.
Der Frankfurter Sexualforscher und Psychiater Volkmar Sigusch gilt als Pionier der Sexualmedizin und zählt zu den international renommiertesten Sexualwissenschaftlern. Die alte Sexualität – Sigusch nennt sie „Paläosexualität“ – habe vor allem aus Trieb, Wollust und Orgasmus zwischen heterosexuellen Paaren bestanden. In den „Neosexualitäten“ dagegen gehe es vorrangig nicht um Fortpflanzung und deren Verhinderung, sondern um das Ausleben der sexuellen Identitäten.
Ausprobieren und Entfalten – nicht Einengen und Verhindern
„Die Paläosexualität war und ist triebhaft“, betont Sigusch. „Sie ist ziemlich kopflos, fremddiszipliniert, uniform, genital- und koituszentriert, kindernah, im Selbstverständnis identisch, im Fremdverständnis oft konfliktgesättigt und krankhaft, ideologisch gott- und naturgewollt, ewiglich nach dem Muster ‚ein Mann + eine Frau‘. Im Vergleich dazu sind die Neosexualitäten flüssig, flexibel, pluriform, ziemlich kopfgesteuert, kalkulierter und musterloser, sexuell und zugleich nonsexuell, unidentisch, eigensinnig, kinderfern.“
Erfüllte Sexualität – das bedeutet: Ausprobieren und Entfalten, nicht Einengen und Verhindern. An den Kirchen ist die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte weitgehend vorbeigegangen. An der katholischen mehr noch als an der evangelischen. Die katholische Kirche hat schon die sexuelle Revolution der 68-erBewegung nicht mitmachen wollen. Von der neosexuellen Revolte ist sie Lichtjahre entfernt. Das offizielle kirchliche Leben spielt sich in einem Paralleluniversum ab, das mit der Realität in den Betten kaum etwas zu tun hat.
Das war schon immer so, werden manche einwenden. Das stimmt. Doch Fakt ist: Die Kluft zwischen kirchlicher Morallehre auf der einen und sexueller Kultur und gelebter Sexualität – gerade in der jungen Generation – auf der anderen Seite wird immer größer.
Die Menschen erwarten von den Kirchen Orientierung
Nach Ansicht der Paartherapeutin Ann-Marlene Henning darf die Kirche zum Thema Sexualität nicht schweigen. „Die Kirche muss etwas dazu sagen“, sagt die dänische Psychologin und Sexologin. Die Menschen würden von den Kirchen Orientierung erwarten. Henning moderiert die TV-Aufklärungssendung „Make love“. Die ersten beiden Staffeln liefen bei den Sendern MDR und SWR, die dritte Staffel strahlt das ZDF aus. „Wenn die Haltung der Kirche zu streng ist und der Mensch deswegen nur eine doppelte Moral entwickelt, muss sie lockerer werden“, erklärt die Psychologin im Magazin „Chrismon“. Sie selbst sei aus der evangelischen Kirche ausgetreten, weil sie ihr „zu freudlos, zu ruhig, zu ernst ist.“ Hennig: „ Ich glaube nicht, dass Gott so ist.“
Bei der Weltbischofssynode geht es um mehr als um Ehe, Familie und Kinder. Es geht darum, ob die kirchliche Morallehre oder die gesellschaftliche Realität die Richtschnur ist, an der sich die Gläubigen ausrichten sollen. Es geht um Selbstbestimmung oder Fremdbestimmung, Autonomie oder Heteronomie. Die Gesellschaft hat sich in dieser Frage mehrheitlich längst festgelegt. Die Bischöfe scheinen es nur noch nicht bemerkt zu haben.