Ralf Helmreich vor der Kinothek in der Asangstraße 15 in Obertürkheim Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Es gehört, neben dem Vaihinger Corso, zu den letzten Vorstadtkinos in Stuttgart. Die Kinothek in Obertürkheim existiert seit 1958. Von der Film- und Mediengesellschaft gab es jetzt 25 000 Euro als Innovationsdarlehen. Vor einigen Jahren hat Ralf Helmreich den Familienbetrieb übernommen.

Stuttgart - Herr Helmreich, morgens um 8 Uhr stehen Sie hoch oben auf der wackeligen Leiter, um die Buchstaben für den nächsten Film auszutauschen. Seien Sie ja vorsichtig!
Keine Sorge. Ich bin seit 1980 schon Tausende Male auf dieser Leiter hochgestiegen. Aber wenn’s Sie beruhigt, komm’ ich runter.
Danke. Blicken wir mal 57 Jahre zurück: Was war am 11. September 1958?
Da war ich gerade einen Monat alt, und meine Eltern haben hier in Obertürkheim ihr eigenes Kino eröffnet, das damals noch Arkada-Filmtheater hieß. Zur Premiere lief „Die Heilige und ihr Narr“, ein unbedeutender Schwarz-Weiß-Streifen, den kennt heute kein Mensch mehr. Mein Vater hatte Werkzeugmacher gelernt, dann in Bernhausen als Filmvorführer geholfen – bis er hier die Chance ergriffen hat, seinen Traum zu verwirklichen. In den 1950er Jahren schossen überall die Kinos aus dem Boden. In Untertürkheim, Zuffenhausen, Wangen, Ostheim; Bad Cannstatt hatte sogar sieben Häuser.
Und Sie waren mittendrin, sind zwischen Projektoren und Filmrollen aufgewachsen?
Wir vier Geschwister, zwei Jungs und zwei Mädels, sind alle im Kino groß geworden. Als Achtjähriger habe ich die Besucher zu ihren Plätzen geführt. Aber ich durfte noch nicht alles gucken, Edgar Wallace war tabu. So bin ich langsam reingewachsen. Und ich war schon früh kultur- und theaterinteressiert, habe in der Ära Peymann in den 70er Jahren fast jedes Stück im Staatstheater gesehen.
Weithin bekannt ist vor allem Ihr Saal.
Fast jedem Besucher entfährt beim ersten Besuch ein spontanes Wow. Es ist ja auch unser Schmuckstück, wunderschön nostalgisch, teilweise mit dem Mobiliar aus der Anfangszeit – die Schirmlämpchen auf den Tischen, die Bestuhlung in den Mittelreihen. Aber ohne Renovierung geht’s natürlich nicht. Unser Hauptsaal erstrahlt seit Oktober 2014 in neuem Glanz.
Unbeschreiblich altmodisch?
Ja, ich möchte dieses nostalgische Flair, keine Massenabfertigung in einer kalten Blackbox wie in vielen Großkinos. Klar, wir sind auch ein Nachspielkino, so vier bis fünf Wochen nach dem Start in der Innenstadt laufen beliebte, anspruchsvolle Filme auch bei uns. Doch vor allem richten wir uns an Besucher, die etwas mehr erwarten als nur das schnelle, oberflächliche Konsumieren der Ware Film. Wir wollen den Menschen einen guten Filmtheaterabend bescheren – ein schönes Wort, das leider aus der Mode kommt. Kino wie gestern im Heute. Viele hervorragende kleine Filme sind einfach zu gut, als dass man sie den Kinogängern vorenthalten darf – auch wenn sie dann nur vor einer Handvoll Zuschauern laufen.
Woher kommen Ihre Besucher?
Wir haben ein Stammpublikum, aber viele kommen etwa aus Nördlingen, Heilbronn oder Pforzheim. Man kann sich nur wundern,was die für weite Strecken auf sich nehmen. Und warum? Weil diese Filme in Kleinstädten mit 20 000 Einwohnern gar nicht mehr zu sehen sind. Gerade am Wochenende kommen viele schon am frühen Abend um 18 Uhr, nehmen im Schbruchbeidl, das ist das von meiner Schwester Birgit geführte schwäbische Restaurant unten, eine Mahlzeit ein, und gehen dann ins Kino.
Ihr großer Saal fasst 125 Zuschauer, der kleine 53 – nicht gerade üppig.
Eigentlich bräuchte ich drei, vier Säle, aber ich habe eben nur die zwei. Deshalb müssen wir zügig unsere Filme wechseln, weil es gar nicht anders geht. Zwei Säle sind das absolute Minimum. Bis zum Umbau 1980 war es ein großer Saal mit 315 Sitzplätzen, unter diesen Voraussetzungen könnten Sie heute den Laden zumachen. Es gibt mittlerweile grundsätzlich zu wenig Leinwände und zu viele Filme. Das ist für uns aber auch ein paradoxer Vorteil: In den Innenstadtkinos werden die Filme deshalb früher rausgenommen und sind dann für uns verfügbar.
Kinobesitzer – was für ein Traum!
Das denken viele und sagen: Mensch, wie toll, du kannsch alle Filme angucken. Dabei sehe ich kaum noch einen Film in Gänze, ich habe ja keine Zeit dafür.
Was machen Sie denn den ganzen Tag?
Alles. Montags die Programmgestaltung für die Woche, ich schau mir die Trailer an, lese die Fachpresse, gehe die Kritiken auch in Ihrer Zeitung durch – die lese ich gerne, ich wäre froh, wenn ich so formulieren könnte. Dank meiner Erfahrung kann ich so recht gut einschätzen, was ein Film wirtschaftlich bringt. Dann muss man die Texte für die Anzeigen verfassen, die Webseite betreuen – dafür mache ich gerade eine Fortbildung –, den Einkauf von Wein, Bier, Süßwaren für unsere Bar erledigen. Von 16 Vorstellungen in der Woche bin ich bei 15 dabei. Ansonsten habe ich noch ein bis zwei Mitarbeiter, die abends bei den Vorstellungen hier sind.
Ganz schönes Pensum.
Ich weiß. Ich muss was ändern. Zwei bis drei Wochen Urlaub im Jahr sind eigentlich zu wenig, um sich aufzuladen. Das ist Raubbau am eigenen Körper. Aber ich suche schon den Ausgleich, ohne Sport kann ich nicht leben, Fußball, Krafttraining, habe früher Pantomime gemacht, bei Peter Makal – aber ich merke, ich werde schneller müde.
Und doch tun Sie sich den Stress an – warum?
Das hat manchmal schon so etwas von Hassliebe und ist durchaus auch Selbstausbeutung. Das Privatleben bleibt auf der Strecke. Und doch ist es eben Erfüllung und Leidenschaft, ich mache das mit Herzblut. Ich kann ein tolles Programm für ein tolles Publikum gestalten. Wie oft rede ich nach der Vorstellung noch mit den Besuchern über den Film. Warum gibt es uns als Vorstadtkino noch? Das hängt sicher damit zusammen, dass es ein Familienbetrieb ist. Meiner Schwester gehört das Gebäude seit 2011, ich bin hier in Pacht. Und meine Mutter sitzt mit ihren über 80 Jahren noch unten an der Kasse.
Keine Angst vor dem immer wieder angekündigten Dahinsiechen der Branche?
Wie oft wurde das Kino totgesagt, und es lebt immer noch. Und speziell bei uns läuft’s prima, die Renovierung haben wir ebenso gestemmt wie die Digitalisierung. Es ist also überhaupt kein Thema, dass wir zumachen. Aber klar, wir werden alle nicht jünger. Vielleicht steigt ja irgendwann mein Neffe ein.