Ein Freund verrät den anderen: Tobias Moretti (hinten) und Ulrich Noethen in „Deutschstunde“ Foto: Senator/Georges Pauly

Es ist schwer, Siegfried Lenz’ Roman über eine Kindheit im Dritten Reich zu verfilmen. Christian Schwochow ist es gelungen – weil er nicht alles ausbuchstabiert.

Stuttgart - Eine Besserungsanstalt, kurz nach dem Krieg. Siggi Jepsen ist einer von den stillen Jungs. Als er einen Aufsatz schreiben soll mit dem höhnischen Titel „Die Freuden der Pflicht“ gibt er bloß ein leeres Blatt ab. Der Lehrer bestraft Siggis Ungehorsam mit der Verlegung des Jungen in eine Einzelzelle. Die Maßnahme scheint zu fruchten: In der Isolation sprudelt es nur so aus Siggi heraus: In dutzende Hefte schreibt er seine Lebensgeschichte als Kind eines Dorfpolizisten im sogenannten „Dritten Reich“.

Siegfried Lenz’ Roman „Deutschstunde“ ist bis heute ein zentrales Werk über den Nationalsozialismus, weil es vor Augen führt, unter welchem Druck Menschen standen, die einerseits nicht mitmachen wollten im System der Ausgrenzung, Diffamierung und Vernichtung, die andererseits aber eingebunden waren in einen sozialen Verbund, der genau dieses Verhalten förderte und belohnte.

In erster Linie hervorragendes Kino

Der Filmemacher Christian Schwochow hat zusammen mit seiner Mutter, der Drehbuchautorin Heide Schwochow, den 1968 erschienenen Roman verfilmt – ein wichtiges Projekt in Zeiten neuerlicher politischer und sozialer Verrohung. Und diese „Deutschstunde“ ist viel mehr als bloß eine pflichtschuldige Unterweisung der Nachgeborenen über besonders düstere Kapitel deutscher Geschichte, sondern in erster Linie hervorragendes Kino, wie man es hierzulande selten sieht.

Ulrich Noethen spielt den Patriarchen Jens Ole Jepsen, der dem „nördlichsten Polizeiposten Deutschlands“ im schleswig-holsteinischen Rugbüll vorsteht. Jepsen ist ein harter Brocken, den preußischen Tugenden von Pflicht und Ehre ganz ergeben. Unter den neuen Machthabern verschärft sich sein Berufsethos noch. Die einst innige Freundschaft zum Kunstmaler Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti) und zu dessen Frau Ditte (Johanna Wokalek) steht plötzlich zur Disposition. Max, Patenonkel der drei Jepsen-Kinder, malt dem braunen Regime nicht genehm. Das verlangt nun von Jepsen, dem Künstler das Berufsverbot auszusprechen, noch dazu, ihn zu überwachen, damit er nicht heimlich weiter malt.

Der Sohn kann sich dem Vater nicht entziehen

Jepsens Frau Gudrun (Sonja Richter) ist unglücklich über die Situation, auch, weil ihr Mann Nansens Bilder aus dem Haus verbannt und sie als „entartet“ brandmarkt. Am härtesten trifft der neue, rechtsradikale Geist im Haus die Kinder. Der Älteste, Klaas (Louis Hofmann), muss an die Front. Die Mittlere, Hilke (Maria Dragus), flüchtet aus dem Elternhaus, weil sie die Enge nicht mehr erträgt; das lässt den Kleinsten, Siggi (als Kind: Levi Eisenblätter, als Teenager: Tom Gronau), verzweifeln. Denn in der Abwesenheit der Großen kommandiert der Vater Siggi ab, ihm bei der Beschattung des Malers behilflich zu sein.

In langen Rückblenden schildert Schwochow Siggis Kindheit unter der Fuchtel des Vaters als Leben im Kerker. In der Einöde hat der Junge keine Chance, sich dem Zugriff des Vaters zu entziehen. Die kleinen Fluchten in den liberalen Haushalt des Malers sind für Siggi mit dem Schuldgefühl belastet, dem Vater gegenüber illoyal zu handeln.

Schwochow setzt auf starke Symbolbilder

Man könnte den Schwochows vorwerfen, dass in ihrem Film der Zwiespalt um den Maler Emil Nolde, den der Autor Lenz zum Vorbild für seine Figur des Künstlers Max Ludwig Nansen nahm, nicht sichtbar wird. Nolde war eben nicht nur Opfer einer rigiden Kulturauffassung, sondern selbst Anhänger rassistischer und antisemitischer Überzeugungen. Dass der Film diese Widersprüchlichkeit der Figur Noldes nicht thematisiert, ist aber kein Manko, es hätte die Darstellung vielleicht überfrachtet. Tobias Moretti etabliert Nansen glaubwürdig als vom historischen Vorbild unabhängigen Charakter, der sich in seiner Kunst gegen das Regime positioniert.

Gut ist auch, dass Schwochow nicht versucht, Gefühle durch den Einsatz tränenfördernder Musik zu beeinflussen. Und anstatt Kriegsgräuel effektheischend auszubuchstabieren, thematisiert der Regisseur den ethischen Verfall in starken Symbolbildern: In den einst schönen Zimmern eines verlassenen Anwesens verwesen Seevögel, deren Knochen Siggi wie zu einem Mahnmal auftürmt. Widerstand zu leisten, macht der Film deutlich, ist schwer und undankbar. Notwendig ist er trotzdem.

Deutschstunde. Deutschland 2019. Regie: Christian Schwochow. Mit Tobias Moretti, Maria Dragus, Ulrich Noethen, Johanna Wokalek, Tom Gronau. 125 Minuten. Ab 12 Jahren. Von Donnerstag an im Atelier am Bollwerk