Im Alten Waisenhaus am Charlottenplatz befand sich nach dem Krieg ein Kino, was viele junge Stuttgarter gar nicht wissen. Von 1946 bis 1968 liefen hier Filme. Foto: Privatarchiv Colm

Die Kinos waren Paläste und meist ausverkauft. Vom Boom der 1950er kann die Filmwirtschaft heute nur noch träumen. In Stuttgart hat die Familie Colm Kinogeschichte geschrieben – und für uns ihr Privatarchiv geöffnet. Wir erzählen Geschichten von der Glanzzeit und dem Niedergang der Lichtspielhäuser.

Stuttgart - Wenn die Leinwand knisternd erwacht, kann plötzlich alles anders werden. Bärbel Colm erinnert sich, wie heftig sie ein Koloss von einem Film traf und so aufwühlte, dass sie tagelang nicht schlafen konnte. 14 Jahre alt war die Stuttgarterin damals. Zu jung, um sich „Von Winde verweht“ regulär anschauen zu dürfen. Doch das Mädchen kannte den ebenfalls jungen Peter Colm, mit dem sie heute verheiratet ist. Dessen Vater war Chef des Planie-Kinos im Alten Waisenhaus. Aus dem kleinen Fenster des Vorführraumes sah sie das 1939 in den USA gedrehte Melodram, das 1953 in deutsche Kinos kam. Nichts mehr war für sie wie zuvor.

Nach dem Krieg waren die Deutschen hungrig nach Zerstreuung und Illusionen. Der Kinobesuch zählte zu ihren beliebtesten Freizeitbeschäftigungen. Sie liebten es, sich in roten Plüsch zu schmiegen, bereit dazu, große Gefühle zu empfangen. Man lauschte eindringlicher Musik, hielt Händchen, schniefte in Taschentücher, lachte und zitterte mit den Helden der Leinwand. 1956 waren in Stuttgart 64 Kinos angemeldet.

1996 hat die Familie Colm das Atrium geschlossen

Dass sich im Alten Waisenhaus, dem heutigen Sitz des Instituts für Auslandsbeziehungen, bis 1969 am Charlottenplatz ein großes Filmtheater befand, wissen viele junge Stuttgarter nicht. Peter Colm und sein Sohn Roman Colm stehen im Innenhof auf der Treppe, auf der sie einst oft hoch- und runtergegangen sind, manchmal mit einem Kinostar im Schlepptau. Wir sind unterwegs zu den Häusern der City, in denen die Colms Filmtheater betrieben haben. In der Blütezeit ihrer Branche waren es sieben Kinos (vom Europa bis zum Delphi) – es waren meist große Säle, bevor diese in den 1970ern zu mehreren Abspielräumen verschachtelt wurden. Roman Colm, der 1996 mit dem Atrium das letzte Stuttgarter Kino des Familienunternehmens schließen musste – die Konkurrenz der Multiplexe war zu groß –, erinnert sich auf der Waisenhaus-Treppe an seltsame Geräusche, die er als Kind im Büro seines Vaters wahrnahm.

Der Schreibtisch befand sich hinter der Kinoleinwand, nur von dünnen Mauern getrennt. In den späten 1960ern liefen Oswalt Kolles Aufklärungsfilme. Darin wurde so heftig gestöhnt, dass man’s nebenan vernahm. Der kleine Roman wurde dann zum Spielen rausgeschickt – in den Waisenhaus-Hof, in den sein Vater Peter Colm Autofahren von dessen Vater Willy Colm lernte.

Tänzerin Laya Raki verzauberte in den 1950ern die Männer

Nach dem Krieg war Willy Colm einer der ersten, der von der US-Besatzungsmacht eine Lizenz für den Kinobetrieb erhielt. Mit der Planie fing er 1946 an, investierte das verdiente Geld in den Erwerb einer Immobilie an der Kronprinzenstraße/Ecke Lange Straße.

Auf der dortigen Ruine ließ Colm ein fünfstöckiges Geschäftshaus bauen. 1952 hat er darin das Atrium mit 700 Plätze eröffnet. Architekt Hans Kieser gestaltete den Zuschauerraum mit zehnprozentiger Erhöhung. Dieser Saal besaß die größte Leinwand von Stuttgart und spielte als einziges Haus im Sensurround-Sound, im Mehrkanaltonverfahren. Stars kamen und gingen. Kirk Douglas war da, Luis Trenker mehrfach. Die Tänzerin und Schauspielerin Laya Raki schenkte dem Kinochef 1954 ein für die damalige Zeit freizügiges Foto mit einer Widmung: „Für Herrn Colm. Alles Gute und viel Erfolg in bester Erinnerung.“

Die Bilanzbücher gehören ins Haus der Geschichte

Unser Rundgang führt uns zu den Häusern, in denen sich Colm-Kinos befanden. Nur eines davon wird heute bespielt: das Delphi an der Tübinger Straße, inzwischen von Peter Erasmus geführt. Im Atrium-Haus befindet sich heute unter anderem das städtische Sportamt. Roman Colm, der in den 1980ern Redakteur der legendären TV-Popshow „Formel 1“ in München war, erinnert sich, wie Erfolgsproduzent Roland Emmerich besonders gern ins Atrium kam, weil er dort die Leinwand und den Sound am besten fand.

Die Colms waren bekannt dafür, Cineasten aus Leidenschaft zu sein, denen es nicht nur um Zahlen gingen. Regelmäßig besuchten sie die Filmfestspiele in Cannes, um Filme zu finden, die ihnen gefielen oder die zu Stuttgart passten. Mainstream allein sollte es nicht sein. Die Faszination Kino hatte für die Geschäftsführung noch eine andere Seite. Sorgfältig schrieb Peter Colm auf, welcher Filme wieviel Besucher hatte und was der Verdienstanteil des Verleihs war. Die alten Bilanzbücher besitzt er heute noch – sie gehören ins Haus der Geschichte.

Neues Buch zur Serie „Stuttgart-Album“ erschienen

Die Vergleichszahlen sagen alles: 1956 wurden in der Bundesrepublik 817 Millionen Kinobesucher gezählt. 2017 waren es nur (mit neuen Bundesländern) 122,3 Millionen. Die digitale Revolution hat das Freizeitverhalten völlig verändert. Die Lust an großen Stoffen, die einen tief berühren, wird ewig bleiben – und diese Lust wird nie vom Winde verweht.

Diskutieren Sie mit unter www.facebook.com/Album.Stuttgart. Im Sutton-Verlag ist jetzt das Buch „Das Beste aus dem Stuttgart-Album“ erschienen, in dem es in einem Kapitel um die Geschichte der Stuttgarter Kinos geht.