Bald muss sich Anna, die von Riva Krymalowski gespielt wird, von ihrem Plüschtier trennen. Die junge Hauptdarstellerin macht aus dem, was folgt, ein Ereignis. Foto: dpa/Frédéric Batier

Es ist ein Klassiker der Jugendliteratur zu Flucht und Exil: Judith Kerrs „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“. Jetzt hat die Oscarpreisträgerin Caroline Link das weltberühmte Kinderbuch einfühlsam verfilmt. Seit Weihnachten ist er in den Stuttgarter Kinos zu sehen.

Stuttgart - Gleich in der ersten Szene des Films taucht es auf, das rosa Kaninchen. Da ist Fasching an der Schule, die Kinder haben sich verkleidet, einige tragen das Kostüm der Nazipartei. Die Nazis allerdings sind echt und sehr gemein. Anna verteidigt ihr rosa Kaninchen; als ein junger Nazi ihr das Stofftier wegnimmt, ruft sie: „Ich will mein Kaninchen wiederhaben!“ Und sie holt es sich.

Kein Kind, das leicht einzuschüchtern wäre, diese Anna. Aber schließlich wird sie sich doch verabschieden müssen. Aus dem Spiel wird Ernst. Ihre Familie verlässt Deutschland noch vor der Reichstagswahl im März 1933. Der Vater reist voraus, ihm droht die unmittelbarste Gefahr: Er bezog öffentlich Partei gegen die Nationalsozialisten. Und er ist Jude. Für Anna und ihren Bruder Max beginnt nun eine lange Reise. Die Flucht führt sie in die Schweiz, schließlich nach Paris, zuletzt nach London. Annas rosa Kaninchen ist in Berlin geblieben: Nur ein Spielzeug durfte jedes der Geschwister mitnehmen.

Schon 1978 wurde Annas wahre Geschichte verfilmt, unter der Regie von Ilse Hofmann, für das Fernsehen. Caroline Link, die deutsche Regisseurin, die 2003 für ihren Film „Nirgendwo in Afrika“ mit einem Oscar ausgezeichnet wurde, erzählt sie nun auf der großen Leinwand. „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ ist Mainstream-Kino im allerbesten Sinne, ein schön gestalteter Film, nachdenklich und gefühlvoll, vorzüglich besetztes Schauspielerkino für Jung und Alt.

Ungewöhnliche Perspektive

Das Mädchen, das im Film Anna heißt, neun Jahre alt zu Beginn der Handlung, hieß in Wirklichkeit Judith Kerr und war die Tochter des berühmten Theaterkritikers Alfred Kerr. Im Film heißt er Arthur Kemper, wird gespielt von Oliver Masucci, der vor vier Jahren in David Wnendts Verfilmung des Bestsellers „Er ist wieder da“ noch Adolf Hitler spielte. Carla Juri ist Dorothea, Annas Mutter, Marinus Hohmann Max, ihr Bruder. Anna und ihre Familie müssen all ihren Besitz in Berlin zurücklassen. Arthur findet im Ausland erst keine, dann nur wenig Arbeit; die Familie gleitet vom bürgerlichen Leben in die Armut ab. Aber Anna lässt sich in alldem das Recht auf ihre Kindheit nicht nehmen: Sie betrachtet ihre Umgebung immer neugierig, aufgeschlossen, frech und ein wenig verträumt, schließt neue Freundschaften.

Neun Tage vor dem Kinostart kam Caroline Link nach Ludwigsburg, um dort im Scala ihren Film vorzustellen. Mit ihr kam Riva Krymalowski, ihre Hauptdarstellerin. Sie wurde 2008 in Zürich geboren, wuchs in Berlin auf. Judith Kerr, das erzählte sie auf der Bühne des Scala sehr stolz, hatte als Mädchen dieselbe Schule wie sie besucht; Kerrs Buch gehört dort heute noch zur Schullektüre. „Eigentlich“, sagt Riva, „lesen wir es erst in der sechsten Klasse, aber meine Mama hat es mir schon in der vierten gegeben. Ich habe es gelesen, und dann kam die Anfrage.“ Riva hatte ein Casting besucht, Caroline Link ihre Hauptdarstellerin gefunden. „Sie hat Tiefgang, Humor und ein unglaubliches Talent“, schwärmt die Regisseurin.

Flucht als Abenteuer

Riva Krymalowski stand mit neun Jahren ganz ohne jede Schauspielerfahrung zum ersten Mal vor einer Kamera, auf einer Fähre, die den Bodensee überquerte, in einer dialogreichen Szene mit Oliver Masucci. „Wir waren beide sehr aufgeregt“, erzählt Caroline Link. „Mir war in jedem Augenblick klar, dass Riva der Film ist, dass sie ihn auf ihren schmalen Schultern fast komplett trägt.“

Caroline Link, Absolventin der Hochschule für Fernsehen und Film in München, hat mehrfach zuvor schon Kinder in den Mittelpunkt ihrer Filme gestellt. Zuletzt verfilmte sie 2018 mit sehr großem Erfolg die Kindheitserinnerungen Hape Kerkelings („Der Junge muss an die frische Luft“). „Die Perspektive des kleinen Mädchens im Roman“, sagt die Regisseurin, „ist so besonders, auch dass Judith Kerr sich das traute, eine eigentlich ganz harmlose Geschichte über diese Zeit zu erzählen.“ Gerade diese Harmlosigkeit eröffnet für Caroline Link eine ganz neue Tiefe: „Die Bilder des Grauens im Nationalsozialismus wurden schon so oft erzählt, dass sie manchmal keine Wirkung mehr haben.“

Die Geschichte des kleinen Mädchens jedoch, das die Flucht auch ein wenig als Abenteuer erlebt, das seine Heimat verliert und sich mit seiner ganzen Lebensfreude dagegenstemmt, ergreift. Caroline Link bringt sie in einem ruhigen, aber doch fesselnden Erzählfluss auf die Leinwand; sie überlädt ihre junge Hauptdarstellerin nicht, sondern stellt ihr, auch in den Nebenrollen, glänzende Schauspieler zur Seite – Justus von Dohnányi als Onkel Julius, Ursula Werner als Heimpi, die Haushälterin der Kempers. Volker Bertelmanns üppige Filmmusik unterstreicht das Idyll vieler Szenen. Nur manchmal reißt diese Oberfläche kurz, erschreckend auf – wenn die Familie in der Schweiz Nachricht vom Schicksal Zurückgebliebener erreicht, wenn eine deutsche Nachbarin in Paris sie schneidet: „Ihr Juden müsst doch in allem immer die Besseren sein.“

Aber Caroline Link verweilt nicht bei solchen Szenen. Sie lässt ihren Film immer wieder eintauchen in die heile Welt, die Anna mit all ihrem Trotz zusammenhält, zeigt die Verunsicherung, die Hoffnung auf dem Gesicht ihrer jungen Darstellerin, zeigt sie mit ihrer Familie, bei einer Weihnachtsfeier vor einem mageren Baum in einer kleinen und dunklen Pariser Wohnung, zeigt, sehr bewegend, wie Anna ihre kindliche Zuversicht niemals verliert.

Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Deutschland 2019. Regie: Caroline Link. Mit Riva Krymalowski, Oliver Masucci, Carla Juri, Marinus Hohmann. 119 Minuten. Ohne Altersfreigabe.