Wenn wir uns nicht treffen können, dann wird eben telefoniert. Foto: Setzer

Ist die Welt jetzt eigentlich vor oder hinter der Fensterscheibe? Unser Kolumnist Michael Setzer über Abstand, Anstand, Lebensfreude und eine klare Absage an die Apokalypse.

Stuttgart - Zur Kernkompetenz von Einjährigen gehört neben unglaublicher Goldigkeit auch, annähernd wahllos Dinge anzufassen, sie bei Gefallen umgehend anzuschnullen und sie dann wieder auf dem Boden abzulegen – dann gegebenenfalls erneut anzufassen und noch mal anzuschnullen. Ab und an wird auch noch eine zweite Meinung vom Hund einholt. Auch klar. So geht das. So macht man das als Einjähriger. Ins Gesicht zu fassen, steht beim Kleinen ebenfalls hoch im Kurs. Also, in jedes Gesicht in Greifweite.

Was ich sagen will: Absoluter Pandemiehooligan, der Einjährige. Deshalb darf er auch nicht mehr in den Supermarkt. Die Menschen sind dort gestresst und ich befürchte sie würden den Kleinen nicht verkraften: Das ist einer, der Klopapier nur für einen Zweck nutzt: abrollen und die Blätter einzeln auf ihre Beschaffenheit prüfen. Und gegebenenfalls: anschnullen. Das machen wir derzeit lieber zu Hause.

Wohin mit der Angst?

Wahnsinn: Wenn das Kind in seinem Element ist, dann scheint alles wie immer. Es ist irre, dass ausgerechnet derjenige, der mich am ehesten von der Beschaffenheit der Lage ablenkt auch der ist, um den ich am meisten Angst habe. Fast unbegründet, habe ich gelesen. Dennoch: von der Angst komme ich nicht los. Und ich verstehe jeden, der momentan auch nicht davon loskommt. Dazu hat man das ja erfunden. Angst. Sie soll uns vorsichtig machen, sie vermiest uns trotzdem den Tag und macht uns karussellig im Kopf.

Dieser widerliche neue Freizeitsport, alle paar Minuten innerlich aufzuschrecken und schon wieder „Huch, Verdammt, Corona!“ zu denken. Ich bin froh, dass ich dem Kleinen noch nicht erklären muss, was da draußen los ist, was gerade passiert. Nicht mal wir Erwachsenen kapieren ansatzweise, wie sehr die Welt auf den Kopf gestellt wird. Ausgerechnet von einem Einjährigen zu verlangen, da jetzt ebenfalls mitzumachen? Danke, nein.

Die Zeit genießen

Der Junge wacht munter labernd auf, lacht und will dann gucken, was die Welt heute so für ihn bereithält. Kuscheln, Quatsch, freundliche Sachbeschädigung, ansteckend gute Laune. Das ist sein Metier. Wir drücken auf Lichtschalter, weil das natürlich genial ist, dass man da drauf drückt und es dann hell und dann wieder dunkel wird.

Man sagte mir, es sei wichtig, die Zeit mit dem Kleinkind zu genießen. Ich hab’s tausendmal gehört und jedes Mal aufs Neue abgespeichert. Stimmt: Die Jahre, in denen man einfach so und splitternackt am Fenster stehen und der Nachbarin zuwinken kann, sind wirklich begrenzt. So was muss man ausnutzen. Äh, also er.

Vor ein paar Tagen stand er wieder auf dem Fenstersims, angezogen. Ich hinter ihm, damit er nicht runterfällt. Er zeigt auf parkende Autos, sagt „Wrummwrumm“ und er winkt einem Mann auf der Straße zu. Früher sind mehr vorbeigelaufen. Der Mann blieb unter unserem Fenster stehen, schnitt Grimassen, imitierte einen lustigen Gang und winkte zurück. Das Kind zeigte in seine Richtung, „Mh?“. Er wollte da hin, näher ran an den lustigen Nachbarn. „Geht gerade nicht“, habe ich gesagt und mich miserabel gefühlt. Noch mal winken und weiter. Pass auf dich auf, Nachbar.

Nur nicht den Glauben verlieren

„Nur nicht den Glauben verlieren“, habe ich neulich zu jemandem gesagt und dann hielt ich inne, weil ich überlegen musste, an was ich eigentlich glaube. Die Welt hinter dem Fenster ist voll von potenziellen Freunden, Menschen die schlaue, lustige und tolle Dinge sagen. Manche bringen uns zum Lachen, manche nicht. Viele sieht man nur einmal im Leben und es war trotzdem spitze, andere sieht man viel zu selten und man wünscht sie sich in ständiger Greifweite. Ja, und es gibt wahnsinnig viele Idioten.

Den Glauben an die Menschheit verlieren? Reitstunden nehmen und dann ebenfalls als einer der Apokalyptischen Reiter durch die Welt zu galoppieren und das weitläufige Ende der Menschheit zu verkünden? Danke, nein. Außerdem ist das struktureller Unsinn. Jeder weiß, dass es unglaublich schlechte Lieder gibt. Aber wir können uns alle darauf einigen, dass Musik mindestens das Allerallerdrittbeste auf der Welt ist. Daran glaube ich.

Und das: Wenn wir mit dem Mist hier durch sind, wird gekuschelt und alles angeschnullt.

Lesen Sie mehr aus der „Kindskopf-Kolumne“

Michael Setzer ist vor gut einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.

P.S.: Eine Bitte hätte ich noch, nee, ein Angebot: Falls euch zu Hause die Decke auf den Kopf fällt, eure Kinder genervt sind, weil sie ihre Freunde, Oma, Opa, Lehrer oder sonst wen nicht sehen können. Wir produzieren hier täglich zwei Seiten Kinderzeitung: Schickt uns Grüße, Fotos, was ihr den ganzen Tag macht oder sagt „Hallo“ zu den tollen Leuten, die eure Kinder gerade nicht treffen können. Einfach an kinder@mhs.zgs.de schicken.