Viele Erwachsene überschätzen sich maßlos: Sie glauben, als Vorbilder für Kinder und Jugendliche zu taugen. Auch unser Kolumnist Michael Setzer scheitert regelmäßig im großen Stil. Aufgeben? Auf keinen Fall!
Stuttgart - Eine wiederkehrende Wahnvorstellung meinerseits: Ich bin tot und kurz danach, steht einer vor mir und liest mir bürokratisch nüchtern meine Lebensstatistiken vor. „Herr Setzer, Sie haben in ihrem Leben hochgerechnet rund 59 Jahre damit verbracht, sich über absoluten Quatsch aufzuregen, zwei Tage um sich zu rasieren und vier Wochen, um…“
Ich: „… Das war kein Quatsch! Und jetzt verlassen Sie bitte sofort meine Urne!“
Bevor er geht, sagt er noch: „Ungefähr acht Jahre haben Sie übrigens stehend an roten Fußgängerampeln verschleudert, obwohl kein Auto in Sicht war!“. Ich: „Raus jetzt!“
Aber wahrscheinlich stimmt das sogar. Das wiederum kann ich erklären: Wenn auf der anderen Seite der Fußgängerampel ein Kind steht, dann warte ich, selbst wenn da laut und deutlich kein Auto, Fahrrad oder Flugzeug kommt. Rot stehen, grün gehen. Haben wir so gelernt, macht Sinn.
Vorbildlich!
Als Erwachsener muss man schließlich ein stückweit als Vorbild dienen. Das rede ich mir zumindest ein, ansonsten würde das Alter ja zu gar nix taugen, außer alt werden, sterben und dann die Statistiken vorgelesen zu bekommen. Antrainiertes Fachwissen muss an jüngere Generationen weitergegeben werden.
Außerdem möchte ich glauben, dass das Kind auf der anderen Seite der Ampel denkt: „Aha! Raucher mit schmutzigen Jeans, Motörhead-T-Shirt, Hund und viel zu vielen Haaren im Gesicht bleiben also an roten Ampeln stehen, obwohl gar kein Auto kommt! Cool!“.
Botschafter der Coolness
In der Hinsicht ist es natürlich unerlässlich, sich selbst als eine Art Coolness-Botschafter oder Sprachrohr der Lässigen zu begreifen. In meiner Erbärmlichkeit glaube ich sogar, dass mich das Kind gegenüber tatsächlich für cool und nachahmenswert hält.
Dabei weiß ich genau, dass jedes meiner Vorbilder als Kind und Jugendlicher immer jemand war, der besondere Expertise in Fachbereichen hatte, die meinen Eltern suspekt waren. Rauchen, kloppen, zündeln, T-Shirts mit Monstern drauf, Toni Schumacher (1. FC Köln!) oder Gene Simmons, der Bassist von Kiss. An Ampeln zu warten war da nie das Thema.
Das Kind lernt schnell
Bei uns zu Hause geht das mit der Vorbildfunktion bisweilen auch voll daneben. Das Kind adaptiert zwar hemmungslos – doch eben mit Vorliebe meine pädagogischen Fehltritte. Dämliche Geste, Kraftausdruck, unbedachter Blödsinn – das Kind horcht auf, macht sich fleißig Notizen und setzt das Gelernte sofort professionell in die Tat um.
Der Junge hat acht Sekunden gebraucht, um wie der Vater die Suppe direkt aus der Schüssel zu trinken, drei Sekunden, um das Pfützenspringen zu perfektionieren und wo die Schokokekse versteckt sind, hat er ganz ohne Anleitung herausgefunden. „Mjam“, sagt er und zeigt dort hin.
Nicht aufgeben!
Gleichzeitig doziere ich zum 400. Mal besserwisserisch, dass „wir hier“ unsere Getränke nicht über dem Boden, der Couch oder dem Hund auskippen, dass die Erde im Blumentopf genau da drin bleiben und nicht etwa in der Wohnung verteilt werden muss oder dass Singles aus Vinyl etwas Liebe brauchen.
Grauzone in der Pädagogik: Wirklich niemand konnte ahnen, dass er es (wie beim Zähneputzen gelernt) auch bei Tisch lustig findet, das Wasser wieder heraus zu blubbern.
Lernen von Kindern
Ich mach’s kurz: Bei Jugendlichen laufe ich jetzt über die Straße und warte nicht mehr, bis die Ampel grün wird. Bin ja nicht doof. Die bekommen meine Pädagogik eh nicht mit, weil sie längst selbst rüber gelaufen sind. Die machen allenfalls Witze über Langweiler wie mich: „Haha, guck mal den Opa da drüben im Motörhead-Shirt. Der steht doof rum, obwohl kein Auto weit und breit in Sicht ist.“
Verdammte Anarchisten!
Lesen Sie mehr aus der „Kindskopf“-Kolumne
Michael Setzer ist vor fast zwei Jahren Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.