Betrunkene und Kinder sagen immer die Wahrheit. Sagt man. Unser Kolumnist Michael Setzer hat nachgeforscht, ob’s da noch mehr Parallelen gibt.
Stuttgart - „Guten Abend!“, sagte ich zum Nachbarn, als ich ihn damals kennenlernte. Er hat gegen halb fünf am Morgen und sturztrunken ein Verkehrsschild an mir vorbei durchs Treppenhaus getragen. Gerne erinnere ich mich auch an einen meiner liebsten Freunde, der mittags nur mäßig ausgenüchtert mit einer Tüte frischer Brötchen im Arm im Bett aufgewacht war. Weil natürlich auch jeder Betrunkene weiß, dass frische Backwaren am Morgen wahnsinnig super sind.
Biologisch abbaubare Sternstunden
Diese biologisch abbaubaren Sternstunden ausgelassener Trunkenheit sind ein steter Quell der Freude. Das wusste auch mein Freund Oliver, der sich auf einem Konzert der Punkrockband The Hellacopters trotz kritischer Anmerkungen ein T-Shirt kaufte, das sich tags darauf und nüchtern betrachtet tatsächlich als rosafarbenes Girlie-T-Shirt entpuppte. Scharf sah er allemal darin aus.
Ich halte es noch immer für eine prinzipiell tolle Sache, angetüddelt nach Hause zu kommen. Käsebrot essen, Wasser trinken, noch mal kurz die besten Lieder der Welt hören und dann langsam einschlafen, während draußen die Vögel ihre eigenen Hits pfeifen – ich mach’s halt kaum noch. Der Spaß rechnet sich für mich nur noch selten.
„Here we are now, entertain us!“
Mein Entertainmentprogramm wird von einem kleinen Jungen bestritten, der ausgerechnet zu den Uhrzeiten putzmunter wird, zu denen betrunken sein früher so viel Spaß gemacht hat. Ein Tritt ins Gesicht, ein Schlag in die Nieren, motzen, labern oder viel Gekicher – dann ist die Nacht vorbei. Jeden Tag, Uhrzeit egal. „Here we are now, entertain us“, Nirvana am Morgen und so.
In dieser Anordnung ist weder Platz für Betrunkene, noch für die Körper- und Geisteslähmung eines ausgewachsenen Katers. Da muss man voll auf der Höhe sein, will man nicht das Beste verpassen: den Jungen und seinen Spaß. Der wiederum besteht auch daraus, Gegenstände zu werfen, wenn er das Interesse an ihnen verliert.
Das Glas der Gläser
Hierbei lässt es sich wiederum bestens von Trinkern lernen. Unser Sohn hat ein Lieblingsglas, aus dem er Wasser und andere Getränke zu sich nimmt: ein geräumiges Schnapsglas von Jägermeister. Als das Glas gemacht wurde, dachten die Glaserfinder bestimmt an besoffene Schussel und daran, dass denen ständig etwas herunterfällt und dann kaputt ist. Scherben, Scherben, Scherben.
Also haben sie das Glas so robust gemacht, man könnte damit ein Haus einwerfen. An Kinder haben sie dabei wahrscheinlich nicht gedacht. Doch wenn der Kleine das Glas im hohen Bogen durch die Wohnung wirft, plagt mich allenfalls noch die Angst, dass er damit den Hund niederstrecken könnte.
Erweiterung der Spaßzone
Kinderlose Freunde glauben manchmal, mit der Elternschaft würde man umgehend zu einer Art blasiertem Besserwisser, Tugendbold, Langweiler oder ________________ (hier bitte alles eintragen, was Sie nie werden wollten), der plötzlich alles albern findet, was früher Spaß gemacht hat. Das stimmt nicht. Eltern entdecken lediglich zusätzliche Späße, erweitern ihr Party-Portfolio.
Ganz grob: Als der VfB Stuttgart kürzlich – glücklicherweise weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit – wieder einmal die große Kunst des Fußballs ignorierte, war ich nicht zugegen. Ich saß am Sandkasten und schaute dem Einjährigen dabei zu, wie er mir erst Sand in die Schuhe füllte, schwer beschäftigt einen Eimer Wasser rein kippte und das Werk dann zufrieden abnickte. Wer in solchen Momenten Fußball vermisst, hat den Sport nie geliebt.
Liveticker vom Chaos
Donnerstag, 21:03 Uhr: Das Kind prescht aus dem Bett, klappst im Vorbeigehen dem Hund auf den Po, ruft „Roooaarrr“, rennt zu meiner Gitarre, drischt kurz auf die Seiten ein, jauchzt „dädädädä“, nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas, kippt den Rest auf den Boden, wirft den kleinen Couchtisch um, rennt in die Küche, kommt mit Altpapier und einer Bürste im Arm zurück, erklimmt die Couch, piekt mir ins Auge, gibt mir einen Schmatz und springt dann wieder runter. Würde er nicht hier wohnen, ich hätte ihm ein Taxi gerufen. So macht man das im Nachtleben – wenn die Lieben überdrehen.
„Was wünscht du dir?“
Neulich habe ich die Frau gefragt, was sie sich wünsche. Worauf sie jetzt wirklich, wirklich Lust hätte.
Sie: „Einfach mal wieder sechs Stunden Schlaf am Stück und später irgendwas mit Käse Überbackenes. Das wär’s!“
Sohn: „Da mhh Mama Aaah Yamyam!“
Falls Kinder und Betrunkene tatsächlich die Wahrheit sagen, dann ist das hier einstweilen unsere.
Lesen Sie hier mehr aus der „Kindskopf“-Kolumne
Michael Setzer ist vor über einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.