Spiel, Spaß: alles im Eimer. Foto: Setzer

Höchste Zeit, ein bisschen auf das eigene Mundwerk zu achten. Denn unser Kolumnist Michael Setzer weiß nun, dass Kleinkinder wesentlich mehr verstehen, als man annehmen würde.

Stuttgart - „Wo sind denn meine Turnschuhe?“, frage ich laut, obwohl ich keine Antwort erwarte. Die Frage stammt aus dem Fundus, aus dem auch „Samma, bin ich blöd?“ kommt: Man denkt laut nach und erwartet (bitte) keine Antwort. Ich hatte allerdings wirklich keine Ahnung, wo ich die Schuhe abgestellt hatte. Doch der Einjährige stiefelt plötzlich los und kommt mit einem davon zurück, sauber gestikulierend teilt er mir mit, dass er auch weiß, wo sich das Gegenstück derzeit befindet.

Mir wird schlagartig klar, dass endgültig andere Zeiten bei uns zu Hause anbrechen, dass ich mein Mundwerk künftig in Zaum halten sollte. Kinder – das war mir bewusst, aber irgendwie eben auch nicht – verstehen sehr gut, was um sie herum passiert und gesagt wird, auch wenn sie selbst noch nicht sprechen. „Turnschuhe“, alleine das Wort, „Sneaker“ will ich nicht sagen, weil ich zu alt für so etwas bin – aber wie man’s auch dreht: ich kann mich nicht daran erinnern, dem Kleinen je erklärt zu haben, was das ist. Wir reden zu Hause nie über Turnschuhe.

Das Fluchen muss aufhören

Ich habe jetzt auch schlagartig aufgehört, Talkshows im Fernsehen anzuschauen. Ich möchte vermeiden, dass das Kind im Nachbarzimmer aufwacht und „Halt doch endlich deine Fresse, Mann!“ als einen sinnvollen Debattenbeitrag notiert. Die Gefahr, dass ich derartiges rufe – sie ist leider groß.

Neulich war ich wütend und referierte im Wohnzimmer und in gehobener Lautstärke über meinen Unmut. Es dauerte kaum zwei Minuten, bis mich das Kind nachäffte – und dabei sogar den Kern meiner Aussage traf. Er lachte, fuchtelte bedeutungsschwanger mit den Armen herum und rief: „Bla lal lala lalalal la!“. Mit Ausrufezeichen.

Recht hatte er allemal. Nur weil ich theatralisch wütend bin, werden die Doofen da draußen ja nicht plötzlich schlauer. Die Beweise laufen frei herum: vergangenes Wochenende „demonstrierten“ einige davon am Stuttgarter Schlossplatz. „Für Grundrechte!“, „Für Freiheit!“, „Für unsere Kinder!“ riefen sie und forderten das Grundrecht auf Angrillen, Anfassen, Sommerschlussverkauf und dass Corona nicht mehr ansteckend ist. „Für unsere Kinder!“, das sagen sie immer, wenn sie eigentlich von sich selbst reden. Das Kind hat’s längst begriffen: „Blablala lala lalal laba“ ruft er mir nochmals zu. Er hat’s verstanden.

Dieser eine dumme Satz

Ich hoffe aber, dass er kürzlich diesen einen dummen Satz von mir überhört hat. Ich sagte: „Ich bin so froh, dass er noch keine Freunde hat, die er vermissen könnte!“. Denn ich glaube, es ist einer der traurigsten Sätze der Welt. Und dumm ist er obendrein, der Satz.

Der Junge zeigt am Fenster auf andere Kinder und zieht mich an der Hand, er winkt dem Mädchen schräg gegenüber im Hinterhof zu – er sollte jetzt eigentlich auf dem Spielplatz Spaß haben, Leute kennenlernen, die bisherigen Kumpels zu Freunden machen, gucken, ob er jemanden mag oder nicht. Eindrücke, Menschliches, Leben und all das tolle Zeug. In Mehrzahl rennen da draußen ja saustarke Leute rum. Gerade in seinem Alter. Das ist es, was mich beschäftigt.

Dass er es nicht einfordert, weil er noch nicht spricht – es ist mein Glück. Aber es ist traurig, weil ich sehe, dass es ihn wurmt. Da gibt’s eine Normalität, die er noch nicht kennt. Und natürlich wäre ich nun gerne wahnsinnig sauer auf den, der sie ihm vorenthält. Mir fehlt’s allerdings nach wie vor am geeigneten Adressat und leider auch an den Alternativen. Im Gegensatz zu einem Großteil der Bevölkerung bin ich nämlich kein Virologe.

Das Mädchen

Und da war dieses Mädchen, wir haben sie zufällig beim Spazierengehen getroffen. Sie stürmte auf den Kleinen los, herzte und schmatzte ihn – weil sie das früher schon gemacht hatte und er das damals schon super fand. Ganz grob: Das ist alles, was ich über Kinder und Abstandsregeln weiß. Einschreiten? „Auseinander!“ brüllen? Wegschucken? „Hilfe!“ oder die Polizei rufen? Nichts davon gemacht.

Verzeihung, ich muss jetzt gehen. Der Kleine bringt gerade einen Turnschuh. Das ist das internationale Zeichen für: Wir gehen jetzt im Sandkasten steil, winken dem Mädchen im Garten schräg gegenüber unseres Hinterhofs, tanzen zum Radiobluesrock der freundlichen Nachbarin und freuen uns auf den Tag, an dem wir das Mädchen vom Spazierengehen, ihre Eltern und alle anderen mit gutem Gewissen zu uns einladen können. In diesem Sandkasten ist viel Platz für das Echte, diese alte Normalität.

Lesen Sie mehr aus der „Kindskopf-Kolumne“

Michael Setzer ist vor über einem Jahr Vater geworden. Früher haben Eltern ihre Kinder vor Leuten wie ihm gewarnt. Niemand hat ihn vor Kindern gewarnt. Er schreibt im wöchentlichen Wechsel mit seiner Kollegin Lisa Welzhofer, die sich in ihrer Kolumne „Mensch, Mutter“ regelmäßig Gedanken übers Elternsein, über Kinder, Kessel und mehr macht.