Nach der Kita bereitet ein Mitarbeiter dem kleinen Bewohner das Essen zu. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Die Notaufnahme für Kinder und Jugendliche stößt an ihre Grenzen, räumlich wie personell. Fachleute aus der Verwaltung empfehlen deshalb ein Refugium für kleine Kinder an anderer Stelle.

Stuttgart - In 400 Fällen hat das Stuttgarter Jugendamt im Jahr 2017 Kinder aus ihren Familien geholt und ins Notaufnahmeheim an der Kernerstraße gebracht – wenn desolate Familienverhältnisse, psychisch kranke oder drogenabhängige Eltern, Verwahrlosung, Misshandlung, Erziehungsunfähigkeit dazu zwangen. 34 Plätze hat das Haus, das eher einer Büroimmobilie als einem heimeligen Ort ähnelt. „Bisher kamen wir mit zwei Gruppen zurecht, einer für die Jüngeren und einer für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Diese Differenzierung passt wegen der unterschiedlichen Problemlagen und dem steigenden Anteil kleiner Kinder inzwischen nicht mehr“, sagt der Abteilungsleiter für Erziehungshilfen im Jugendamt, Lucas-Johannes Herzog. Er und Dr. Stephan Ehehalt, Abteilungsleiter für Kinder- und Jugendgesundheit im Gesundheitsamt, haben jüngst im Jugendhilfeausschuss für einen zweiten Standort plädiert und an diesem Dienstag von Bürgermeisterin Isabel Fezer den Auftrag erhalten, eine Mitteilungsvorlage für den Gemeinderat auszuarbeiten.

Nicht für alle genug Platz

Herzog und Bereichsleiter Harry Hennig erinnern an den Sommer 2017. „Damals suchte man fast zeitgleich für elf Kleinkinder nach einem Platz. Zusätzlich gab es Anfragen für deren etwas ältere Geschwisterkinder. Da wir kein Kind ablehnen dürfen, mussten wir in den umliegenden Landkreisen nach Plätzen suchen und fünf der Kinder dorthin abgeben“, sagt Hennig. Von „Wasch- und Versorgungsstraßen“ für die Null- bis Vierjährigen spricht Herzog, wenn er von jenem Sommer erzählt; die Kinder seien mit zehn bis elf Betreuungspersonen konfrontiert gewesen.

Eine Betreuerin für eines der Kinder, es ist geistig behindert, musste zusätzlich aus dem eigenen Budget bezahlt werden. Bleibt ein behindertes oder chronisch krankes Kind mit einem heilpädagogischen Bedarf oder dem Anspruch auf spezielle Assistenz länger als geplant, „würde es bis zu zwölf Monate lang keine Förderung bekommen“, so Herzog. Allein für chronisch kranke und behinderte Kinder beziffert Ehehalt vom Gesundheitsamt den Bedarf mit zehn Plätzen.

In der Nacht haben Kleinkinder Stress

Auf alle unterschiedlichen Bedürfnisse ganz unterschiedlicher Kinder und Jugendlicher einzugehen, „das ist bei unserer personellen Ausstattung und der räumlichen Situation nicht zu machen“, sagt Herzog.

Die Hausleiterin Carmen Krosch nennt Beispiele aus der Praxis: „Wir haben Streuner hier, die für eine Nacht hierbleiben, bis sie am nächsten Tag eine Fahrkarte bekommen und zurück zu ihrem Heimatjugendamt geschickt werden. Es gibt Mädchen, die vor Jungen geschützt werden müssen. Es lebt ein Dreijähriger hier, dessen Mutter ein Erziehungsfähigkeitszeugnis vorlegen muss, auf das wir seit acht Monaten warten. Es gab ein behindertes Geschwisterpaar, dessen Mutter einen Suizidversuch unternommen hat.“

Das Haus sei hellhörig. „Nachts kommt es vor, dass Jugendliche vorm Haus randalieren. Kürzlich zerlegte ein Mädchen die Küche und musste von vier Polizisten gebändigt werden“, sagt Carmen Krosch. Die Kleinen würden davon wach, hätten Angst und seien oft so geprägt, dass nächtlicher Lärm Auslöser für Stress ist. „Ein kleines Häusle mit Garten, das würden wir unseren kleinen Kindern wünschen“, so Carmen Krosch.

Zahl der Kinderschutzfälle steigt

Eine schnelle Reaktion auf Kindeswohlgefährdung ist laut Herzog vom Jugendamt nur bei einer Auslastung von etwa 65 Prozent möglich. „Die Bereitschaftspflegeplätze in Pflegefamilien sind alle voll. Von unserem Ziel, alle Kinder unter sechs Jahren dort unterzubringen, haben wir uns verabschiedet.“ Im vergangenen Jahr gab es 54 Pfleglinge in 21 Familien, die Zahl der Neuaufnahmen (29) sei gesunken, „weil die Kinder im Schnitt ein Jahr lang in den Familien bleiben müssen, ein halbes Jahr länger als gewünscht“, so Herzog. Er führt schwierige Familienverhältnisse, Erziehungsunfähigkeit der Eltern und die Dauer der Verfahren am Familiengericht als Gründe ins Feld – allesamt mit zunehmender Tendenz. Auch im Notaufnahmeheim sei die Verweildauer deshalb auf rund 460 Tage gestiegen.

Mangels Alternativen für die Heimunterbringung fordert Grünen-Stadträtin Gabriele Nuber-Schöllhammer darum die Stadt auf, ihrem „ganz besonderen Schutzauftrag gegenüber die Kleinen nachzukommen und eine angemessene Unterkunft zu stellen“. Auch SÖS/Linke-plus ist auf ihrer Seite: „Man muss alles tun, was die Kinder schützt“, sagt Laura Halding-Hoppenheit, und auch SPD-Stadträtin Judith Vowinkel hält es für unzumutbar, „die kleinen Kinder in dieser Gemengelage zu versorgen“.

Eine Erhebung des Statistischen Amts belegt die Dringlichkeit: Die Kindeswohlgefährdungen sind in der Stadt von 2015 auf 2016 um 44 Prozent auf 1355 Verfahrensfälle gestiegen, 769 Mal mussten Maßnahmen zum Kinderschutz ergriffen werden.