Der Griff eines Täters nach der Ware Kind: Polizisten können nur zwei bis drei Stunden täglich die Videos anschauen, die verharmlosend „Kinderpornografie“ genannt werden. Foto: dpa-Zentralbild

Staatsanwälte leiteten auf Grundlage von Ermittlungen des baden-württembergischen Landeskriminalamtes (LKA) weltweit in diesem Jahr bereits 11 753 Strafverfahren wegen des Besitzes und der Verbreitung von Kinderpornografie ein.

Stuttgart - Wenn Michael Pinther morgens den Computer hochfährt, ist die Welt noch in Ordnung: Blauer Himmel, ein paar weiße Wölkchen, ein Baum, der scheinbar in die Unendlichkeit wächst. Mit einem, zwei Mausklicks verwandelt der Kriminaloberkommissar die Idylle in eine Welt des Grauens: Hundertaussende Foto- und Videodateien warten darauf, dass der Ermittler des Landeskriminalamtes (LKA) Baden-Württemberg sie begutachtet: Sieht er „nur nackte Kinder“ oder ist das, was da über seinen Bildschirm flimmert, Kinderpornografie?

Das Ergebnis liest sich in Pinthers Ermittlungsberichten später bemüht nüchtern, distanziert: Das Opfer sei ein zehn bis 16 Monate alter Junge, der „gut zu erkennen ist“. Bereits beim Ausziehen beginne das Kind an zu weinen und zu schreien. Während der gefilmten Vergewaltigung stellte der LKA-Auswerter die „fast dauerhafte Fesselung der Arme und Beine“ des Kindes fest. Mehrfach vergewaltigt der Täter den Kleinen – ein unerträgliches, mit Worten kaum zu beschreibendes Martyrium.

Zweieinhalb, maximal drei Stunden täglich könne er seinen Polizistinnen und Polizisten die Aufgabe übertragen, solche Dateien anzuschauen, auszuwerten und rechtlich zu bewerten, sagt Hauptkommissar Achim Traichel: „Mehr will ich ihnen dann nicht mehr zumuten.“

"Die kotzen eine Woche lang durch"

Das sehen auch die deutschen Innenminister so. Sie haben ihren Ermittlern eine spezielle Datenbank eingerichtet. In die werden alle Dateien eingestellt, die auf Rechnern von Tätern gefunden wurden. Hat ein Ermittler jedes einzelne Bild, jedes einzelne Video angeschaut, bewertet er dessen Inhalte, ob sie für ein Strafverfahren relevant sind. Der Besitz und die Verbreitung eines Fotos oder Videos sind erst dann strafbar, wenn sie „sexuelle Handlungen von, an oder vor Kindern zum Gegenstand haben“. Der Vorteil der Datenbank: Hat ein Ermittler einmal eine Datein begutachtet, gilt seine Bewertung in allen Ermittlungsverfahren, die in Deutschland geführt werden. Die „Bilder und Videos muss ich mir dann nicht auch anschauen, wenn ein Kollege in Bayern das schon getan hat“, sagt Michael Pinther.

Angesichts von alleine 212 440 Dateien, die kürzlich auf dem Rechner eines pädophilen Täters in Esslingen gefunden wurden, eine Erleichterung vor allem für die Seele. Er kenne Fahnder, sagt Professor Christian Pfeiffer, „die kotzen eine Woche lang durch“. Der Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen lobt die Arbeit der Missbrauchsfahnder: „Die Internet-Spezialisten der LKAs sind inzwischen so gut wie Computer-Hacker“. Die Baden-Württemberger gehörten zu den führenden Ermittlern Deutschlands.

Das zeigen die Ermittlungsverfahren, zu denen die Cyberrechercheure der Landeskriminalen in Stuttgart die Beweise lieferten: 2013 stützen sich Staatsanwälte überall in Deutschland in 5716 Verfahren auf die Bewertungen des Hauptkommissars Traichel und seiner Kollegen. Bis zum Ende dieser Woche leiteten Ankläger bereits 11 753 Verfahren auf Grundlage der Arbeit der baden-württembergischen Internetpolizisten ein, 800 davon in Deutschland.

"Das hat mit Pornografie nichts zu tun"

Den dafür maßgeblichen Paragrafen 184 b des Strafgesetzbuches würde Achim Traichel alleine wegen des Begriffes „Kinderpornografie“ ändern. Der, so der LKAler, „verharmlost in unerträglicher Weise die grauenvollen Straftaten, die wir in den Dateien sehen“. Pornografie sei die Darstellung menschlicher Sexualität mit dem Ziel, den Betrachter zu erregen. „Kinder aber werden in diesen Filmen missbraucht, vergewaltigt, ihrer Würde beraubt. Das hat mit Pornografie nichts, aber auch gar nichts zu tun“, sagt der Kriminale und regt an, von Pädokriminellen und Pädokriminalität zu sprechen.

Die findet vor allem im sogenannten Darknet, dem „Dunklen Netz“ statt. Nur etwa 15 Prozent des Internets sind für den Laien sicht- und nutzbar. Um auf den Rest zuzugreifen müssen die Nutzer die Verbindung zu anderen Nutzern in der Regel mit Hilfe spezieller Software manuell herstellen. Sie laden neue Teilnehmer ihrer Foren ein und integrieren diese dann in das Darknet. Das bietet auch Zuflucht für die Leute, deren Treiben kaum zu ertragen ist. „Die Foren für Kinderpornografie haben sich inzwischen weitgehend ins Darknet verlagert“, sagt Staatsanwalt Andreas May, der die Gießener Zentralstelle Internetkriminalität leitet. „Die Betreiber fühlen sich dort sicherer.“

In diesen Foren werden Links ausgetauscht und Geschäfte abgeschlossen. „Mit Darstellungen missbrauchter Kinder ist viel Geld zu machen“, sagt May. „Wir hatten einen Fall, da zahlten die Leute jeden Monat 100 Dollar, um Mitglied in einem Pädophilen-Forum zu sein.“ Bei anderen Recherchen stießen Ermittler auf eine Plattform, über die Missbrauchsfilme von anonymen Einzahlern finanziert werden sollten. Versprochen wurde, dass ein Dreijähriger vor laufender Kamera nach den Anweisungen der Geldgeber missbraucht werden sollte. Die Premiere gebe es, hieß es zynisch weiter, „wenn die Produktionskosten gedeckt sind“.

In dieser Schattenwelt tut jeder, was er will. Identitäten sind geschützt – auch und gerade vor Ermittlern. Dafür sorgt eine ausgetüftelte Tarntechnik. So fühlen sich Kunden wie Händler sicher: Internetexperten sind sich sicher, dass es nahezu unmöglich ist, Sender oder Empfänger solcher Transaktionen eindeutig zu identifizieren. Das Verbrechen präsentiert sich in dieser Ecke des Internets schamlos. Verbrecher bieten hier selbst gepanschte Drogen ebenso wie Waffen, Auftragsmorde und Kinder feil.

Die Täter, sagt Achim Traichel, seien fast immer Männer und kämen aus allen sozialen Schichten: „Sie sind mitten unter uns.“ Einer australischen Studie zufolge ist es gar so, dass die Täter in aller Regel in Beziehungen leben, arbeiten und über einen akademischen Grad verfügen. Ein Professor der Göttinger Uni-Klinik lud sich ebenso Bilder missbrauchter Kinder auf seinen Rechner wie ein Ministerialrat des bayrischen Wirtschaftsministeriums, ein Erzbischof oder der frühere SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy. Den Tätern gehe es vor allem darum, Macht auszuüben, sagt Traichel.

Einmal im Quartal wird den Kriminalen eine Supervision angeboten. Psychologen helfen den Beamten, die Bilder und Videos wieder aus dem Kopf zu bekommen, wenn sie ihre Rechner zum Dienstschluss herunterfahren. „Es hat jeden Tag Sinn, in diese Arbeit Kraft zu stecken“, sagt der Oberkommissar Michael Pinther. Kürzlich lieferten ihm Kollegen aus Stuttgart 593 715 neue Dateien, die ein Verdächtiger auf seinem Computer gesammelt hatte. 442 521 muss Pinther noch auswerten.