Derya und Shiwa lesen zusammen – und bereichern ihr Leben gegenseitig. Foto: Felizitas Eglof

Manchen Kindern fehlt ein Vorbild, das sie unterstützt und stärkt. Derya ist so ein Vorbild. Denn sie ist ein Kinderheld für die zehnjährige Shiwa.

Fasanenhof - Vorsichtig balanciert Shiwa Buchstabe für Buchstabe auf ihrer Zunge. Die Zehnjährige liest die Worte mit Bedacht, nach und nach schlüpfen die Silben über ihre Lippen. Neben ihr sitzt Derya Kaya. Ihre herzlichen dunklen Augen ruhen auf dem „Dschungelbuch“, das vor den beiden auf dem Tisch liegt. Wort für Wort verfolgt Derya, was Shiwa liest – und unterbricht den Lesefluss, wenn die Zehnjährige etwas falsch gelesen hat, lässt sie Worte wiederholen und hakt nach, ob die Kleine auch wirklich verstanden hat, was sie liest.

Die zwei sitzen in der Bibliothek der Fasanenhofschule. Derya und Shiwa sind ein Tandem von der Organisation Kinderhelden. Diese verbindet Kinder mit ehrenamtlichen Mentoren, die ihnen zuhören, sie ermutigen und unterstützen. In regelmäßigen Treffen sollen verschiedene Kompetenzen wie Mathe und Deutsch, aber vor allem auch das Selbstbewusstsein und das Wohlbefinden der Kinder verbessert werden.

„Am liebsten lese ich zusammen mit Derya, wir rechnen, oder wir machen einen Ausflug“, sagt Shiwa. Wenn sie redet, sprudeln die Worte regelrecht aus ihr heraus. Und wenn ihr nicht einfällt, wie ein Begriff auf Deutsch heißt, malt sie ihn auf. „Derya, weißt du noch, als wir im Zoo das blaue Tier gesehen haben, mit den Augen auf dem Fell?“ Die Schülerin gestikuliert wild mit ihren Händen. Doch Derya schüttelt den Kopf, sie könne sich nicht erinnern. Kurzerhand greift Shiwa zu Stift und Papier und malt los. „Ach du meinst einen Pfau, ja genau, den haben wir gesehen“, sagt Derya.

Derya kennt die Situation, in der Shiwa sich befindet

Shiwa kam vor vier Jahren aus Afghanistan nach Deutschland. Seit sie hier ist, besucht sie die Fasanenhofschule. Sie sei intelligent, jedoch bereite ihr vor allem die Sprache Probleme. Deswegen meldete sich Shiwas Lehrerin bei den Kinderhelden. Daraufhin bekam sie vor zwei Jahren ihre Mentorin. Derya stammt aus der Türkei, geboren wurde sie in der Schweiz, danach wurde sie mit ihrer Familie nach Deutschland abgeschoben. Mittlerweile hat die 28-Jährige studiert und arbeitet bei Bosch. „Ich erkenne mich in Shiwa wieder. Ich weiß, wie es ist, in ein Land zu kommen und überhaupt nicht zu verstehen, was die Menschen dort machen, was sie sagen und welche Regeln es gibt“, sagt Derya. „In diesem Land hat man aber so viele Chancen. Ich habe diese genutzt, und ich möchte auch anderen helfen, sie zu nutzen.“

Dank Derya lernt Shiwa immer mehr von ihrer neuen Heimat kennen. Sie berichtet begeistert von gelesenen Büchern, von gemeinsamen Spaziergängen und von Deryas Besuchen bei Shiwa Zuhause. „„Einmal waren wir an einem Ort, und da habe ich etwas für mich und Derya gebastelt, das kann man an das T-Shirt hinmachen. Aber wie heißt das noch mal?“ Das Wort, das ihr fehlt, ist Brosche. „Ja, da hat Shiwa uns eine Partnerbrosche gebastelt“, sagt Derya lächelnd. Das war bei einer Veranstaltung von Kinderhelden. Die Organisation bietet immer wieder Treffen für Mentoren und Kinder an, bei denen sie etwas zusammen unternehmen und sich austauschen können. An den Treffen nehmen Shiwa und Derya gerne teil, ansonsten sehen sie sich ein- bis zweimal in der Woche. „Ich bin aber keine Hausaufgabenbetreuung. Klar, ich helfe ihr mal, aber mir ist wichtig, Shiwa zu zeigen, welche Möglichkeiten sie hat. Ich fühle mich als Vorbild.“

Das Leuchten in den Augen ist Motivation genug

Derya wollte sich schon während des Studiums ehrenamtlich engagieren, doch ihr fehlte die Zeit. Als sie dann bei der Arbeit einen Aushang von Kinderhelden sah, wusste sie „jetzt oder nie“. Seitdem investiert sie viel Zeit und vor allem Freizeit in Shiwa. „Ich habe aber noch genug Zeit für meinen Beruf und meine Familie und Freunde.“ Ihre Motivation, Shiwa zu betreuen: „Mir reicht es, wenn ich ihre leuchtenden Augen sehe.“ Wie lange die beiden sich noch treffen, steht in den Sternen. „Ich möchte sie auf jeden Fall aufwachsen sehen. Vielleicht wird das ja eine Freundschaft für Leben“, sagt die 28-Jährige.

Mittlerweile hat sich Shiwa durch das halbe „Dschungelbuch“ gelesen. Draußen ist es dunkel geworden, die Putzfrau möchte die Bücherei abschließen. „Dann machen wir eben nächstes Mal weiter“, sagt Derya und packt mit Shiwa alles ein. Gegenseitig helfen sie sich, ihre Jacken anzuziehen. Mit ihren dunklen Haaren und dunklen Augen könnten sie fast Schwestern sein. Als die zwei auf die Ausgangstür zulaufen, greift Shiwa Deryas Hand. Und gemeinsam gehen sie Shiwas Zukunft entgegen.

Wer wie Derya ein Kind auf seinem Lebensweg begleiten möchte, kann sich auf www.kinderhelden.info informieren und sich per Telefon 0711/34 24 77 0 oder per E-Mail mail@kinderhelden.info melden. Kinderhelden bietet die Betreuung an der Fasanenhofschule, an der Steinbachschule in Büsnau und an weiteren Schulen im Stadtgebiet an.