„Wir trauen unseren Kindern zu wenig zu, dadurch gehen ihnen wertvolle Erfahrungen verloren“, meint die Kinderbuchautorin Kirsten Boie. Foto:  

Von Afrikas Süden in den Norden Deutschlands: Die Themenliste von Kirsten Boies Büchern ist so bunt gemischt wie lang. Im Interview erklärt die Kinderbuchautorin, was sie unserem von Katastrophen geprägten Bild von Afrika entgegensetzt will.

Stuttgart - An der Schlei entdeckte Kirsten Boie ein Haus, das nur über einen Steg zu erreichen ist. Es brachte die Kinderbuchautorin auf die Idee zu ihrem neuen Buch „Ein Sommer in Sommerby“. Auch in ihrer Reihe über den afrikanischen Jungen Thabo geht es um Kinder, denen viel zugetraut wird.

Frau Boie, zählen Sie die Bücher noch, die Sie geschrieben haben?
Nein, ich bin zu faul dafür. Im Internet steht, es seien über hundert. Aber wie wird gezählt, wenn aus drei Bänden einer Reihe ein einziger gemacht wird? Aber um die hundert Bücher werden es schon sein.
„Ein Sommer in Sommerby“ heißt das neue. Ein Titel, in dem vieles anklingt – die Kinder von Bullerbü, Ferien… Was hat Sie zu diesem Buch inspiriert?
Inspiriert hat mich die Landschaft um die Schlei, da sind tatsächlich in den letzten zehn Jahren viele meiner Bücher entstanden. Es ist eine wunderbare Gegend und ich hatte das Gefühl, dass ich ihr eine Geschichte schulde. Das gibt es ja, dass Landschaft etwas in einem auslöst und man darüber schreiben möchte. Und ich habe tatsächlich so ein kleines Haus, wie es die Oma in „Sommerby“ bewohnt, an der Schlei gesehen, ein Haus, das nur über einen Steg per Boot zu erreichen ist. Da habe ich mir die Frage gestellt, was für ein Mensch da leben könnte - ohne Verbindung zum nächsten Dorf. So habe ich die Figur der Oma gefunden.
Bei ihr landen etwas unfreiwillig drei Geschwister. Bei der Oma gibt es kein W-lan, keine Spülmaschine, keinen Fernseher, trotzdem wird es ein toller Sommer. Ermuntern Sie zum Aussteigen?
Ich fand es eine schöne Möglichkeit, Kindern einmal die Gelegenheit zu geben, bei so einem Menschen ein paar Tage zu erleben, abgeschnitten von aller Zivilisation und ohne die inzwischen sehr dominierenden Kommunikationskanäle. Es ist ein Ausstieg für eine kurze Zeit, wie er uns allen gut tun würde – mir auch; ich bin auch nicht frei von diesen Dingen. Ich glaube, dass das für die Kinder eine unglaubliche Umstellung sein muss, je älter sie sind, umso mehr, weil sie ja immer medienaffiner werden. Wenn man keine Whatsapp verschicken kann, ist der ganze Urlaub im Eimer. Aber in „Sommerby“ sind die Kinder darauf angewiesen, nur noch Realität zu erleben.
Einer, der mit sehr wenig auskommen muss, ist Thabo, der Held Ihrer davor erschienenen Kinderbuchreihe, die im Süden Afrikas spielt. Ihr afrikanischer Nachwuchsdetektiv ist umgeben von großer Armut. Da wirkt die Ostsee-Idylle wie ein Kontrastprogramm. Brauchten Sie die Abwechslung?
Ja. Es ist eher ungewöhnlich, dass ich von einer Reihe drei Bände am Stück schreibe. Das mache ich bei Serien sonst nicht, da entsteht immer anderes zwischendurch. Ich brauche tatsächlich die Abwechslung, um immer wieder etwas Neues auszuprobieren. Drei „Thabo“-Bände fand ich erst einmal genug. Und es hatte tatsächlich einen großen Reiz, in „Sommerby“ das ganz Andere zu beschreiben.
Thabo und sein Freund Sifiso sind Aidswaisen und müssen alleine klar kommen – und dazu noch Kriminalfälle lösen…Wie halten Ihre jungen Leser den Kontrast aus zwischen dem eigenen Wohlstand und der Not der afrikanischen Kinder, von der Sie erzählen?
Ich glaube, so lesen Kinder nicht. Die beziehen diese afrikanische Situation nicht auf sich selbst – und das finde ich auch gut so. Wir Erwachsene dürfen das gerne. Aber dass die Kinder sagen: Wie geht’s mir gut, und ich bin völlig unbescheiden, wenn ich mir nun ein neues Spiel für die Wii wünsche, da müsste ich doch eigentlich darauf verzichten. Nein, das will ich nicht. Ich wünsche mir, dass ihnen bewusst wird, dass es auf der Welt viele Kinder gibt, die wie Thabo leben müssen. Und ich glaube, dass sie das tatsächlich wahrnehmen und dazu bereit sind, über solche Fragen nachzudenken. Mein Anliegen ist es nicht, ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen. Gerade Kindern kann man keine Vorwürfe machen.
Unser Bild von Afrika ist geprägt von Katastrophen: Hunger, Unruhen, Flüchtlingsströme. Was war für Sie der Anreiz, einen afrikanischen Kinderhelden zu erfinden?
Ich bin seit zehn Jahren in ein Aidswaisen-Projekt in Swasiland involviert und bin regelmäßig vor Ort. In dieser Zeit konnte ich viele Erfahrungen sammeln, und ich hatte schon lange den Wunsch, darüber zu schreiben. 2013 erschien dann das Buch „Es gibt Dinge, die kann man nicht erzählen“ mit authentischen Geschichten, die sehr ernst sind. Bei Lesungen zeigten Jugendliche großes Interesse daran. Aber da war auch dieses Überlegenheitsgefühl: Naja, das ist eben Afrika. Dem wollte ich etwas entgegensetzen.
Einen positiven Helden?
Ja, wenn Kinder hier etwas über Kinder in Afrika erfahren, dann ist das immer Trostloses. Es geht nie um Kinder, die sind wie sie. Es geht immer um das ganz Fremde, um Opfer, mit denen man Mitleid hat. Zu sehen, dass es sich um starke Persönlichkeiten handelt, die witzig sind und viel auf die Reihe kriegen, das hat mir gefehlt. Deshalb wollte ich eine Reihe schreiben über ein afrikanisches Kind, das eben eine Identifikationsfigur sein kann. Dabei wollte ich nicht das Bild zerstören, dass man es in Afrika schwer hat, das sollen die Leser schon erfahren. Aber gleichzeitig will ich ihnen deutlich machen, dass Kinder wie Thabo ziemlich gut drauf und vielleicht gar nicht so anders sind.
Thabo nennt sich einen Gentleman-Detektiv und legt Wert auf gute Manieren. Ist das in seiner Situation nicht ein übertriebener Luxus?
Dafür gibt es zwei Gründe. Der eine sind die Miss-Marple-Filme, die er mit seiner älteren englischen Freundin schaut. Der andere ist die Biografie von Nelson Mandela, der beschreibt, wie er sich als Jugendlicher fest vorgenommen hat, dass er später mal ein Gentleman wird. Das finde ich sehr nachvollziehbar.
Was können junge Leser von Afrika lernen?
Sie könnten lernen, mit wenig zufrieden zu sein. Ob wir das unseren Kindern wünschen sollen, ist aber eine ganz andere Frage. Ich bewundere an afrikanischen Kindern, wie sie es schaffen, sehr selbstständig zu sein. Gezwungenermaßen, denn ihnen wird sehr viel mehr abverlangt. In Swasiland, das weltweit die höchste HIV-Rate hat, gibt es Zehnjährige, die ihre jüngeren Geschwister aufziehen, weil die Eltern an Aids gestorben sind. Zum Glück geht nun die Rate der Neuinfektionen massiv zurück und die Medikation ist besser. Damit sinkt auch die hohe Zahl der jungen Waisen.
Auch den drei Kindern in „Sommerby“ wird mehr zugemutet, als besorgte Eltern für gut empfinden würden. Jagd auf einen Immobilienhai muss zwar nicht gleich sein, aber sind Eltern zu vorsichtig?
Ja, wir trauen unseren Kindern zu wenig zu. Die Angst der Eltern, dass den Kindern was passieren könnte, ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Mein Lieblingsbeispiel ist der Schulweg. Ich kann gut verstehen, wenn sich Eltern vor dem gefährlichen Verkehr sorgen und ihre Kinder fahren. Aber dadurch verlieren die Kinder wertvolle Erfahrungen. Auf dem Weg zur Schule können sie viel erleben, sie können sich mit Freunden austauschen, sie können streiten und sich aussöhnen, sie können etwas Abenteuerliches entdecken. All das geht den Kindern verloren, die gefahren werden.