Seit mehr als 40 Jahren arbeitet Hans Hopf mit Kindern und Jugendlichen. Durch die eigenen Erfahrungen habe er sie besser verstehen können, sagt der Psychotherapeut. Foto: Gottfried Stoppel

Als Psychoanalytiker blickt Hans Hopf Kindern in die Seele. Nun hat der 74-jährige Mundelsheimer das eigene Trauma aufgeschrieben: die Flucht nach 1946.

Mundelsheim - Zeichnungen, Holzschnitte, Aquarelle, Ölgemälde – es gibt kaum eine weiße Stelle an den Wänden des Hauses in Mundelsheim, in dem Hans Hopf lebt und lange Jahre seine Praxis hatte. Erst spät habe er verstanden, dass diese Liebe zur Kunst vielleicht etwas mit den nackten Wänden des Lagers zu tun habe, in dem er als Kind sechs Jahre verbrachte, sagt der renommierte Kinder- und Jugendpsychotherapeut. Ein Gespräch über eine Flucht und ihre Folgen – und was man daraus für den Umgang mit Kindern, die heute in Deutschland ankommen, lernen kann.

Herr Hopf, Sie waren knapp vier Jahre alt, als Sie 1946 mit der Mutter, zwei Brüdern und der Großmutter aus dem heutigen Tschechien fliehen mussten. Was sind Ihre ersten Erinnerungen aus dieser Zeit?
Mein Gedächtnis setzt ein, als der Güterzug hält. Wir waren drei Tage unterwegs. Im Zug war es furchtbar stickig und dunkel, alle waren durstig und hungrig. Dann hält der Zug an der Ostsee, die Türen werden aufgerissen, und meine Mutter sagt: „Schau, da ist das Meer.“ Ich wusste gar nicht, was das ist. Es war alles fremd.
Wie ging es weiter?
Wir lebten einige Monate auf einem Bauernhof in Mecklenburg-Vorpommern, dann zogen wir weiter in die Amerikanische Besatzungszone, weil wir gehört hatten, dass mein Vater aus der Kriegsgefangenschaft dorthin zurückgekehrt war. Bei der Reise über die Grenze hatte ich ein unvergessliches Erlebnis: Wir sind auf dem Bahnhof in Stendal, da kommt ein russischer Soldat auf mich zu. Es wirkt sehr bedrohlich, meine Mutter schreit. Aber der Mann nimmt mich auf den Arm, lacht und gibt mir etwas zu essen. Für mich war es unglaublich, dass man einem dreckigen Flüchtling wie mir etwas gibt.
Haben Sie andere gute Erinnerungen?
Meine Großmutter war eine sehr wichtige Bezugsperson für mich. Sie hat sich liebevoll um mich gekümmert. Ich lebte mit ihr eine Zeit lang allein in einem Dorf in Hessen. Meine Mutter und die Brüder waren schon im Flüchtlingslager in Franken und hatten meinen Vater getroffen. Nach zwei Jahren musste ich auch dorthin. Das war ein schrecklicher Einschnitt.
Warum?
Ich kam weg von meiner geliebten Großmutter in ein schmuddeliges Lager. Zu meiner Familie, die ich zwei Jahre nicht gesehen hatte. Mein Vater war für mich ein völlig Fremder.
Wie war das Leben im Lager?
Das Lager Ebelsbach war ein ehemaliges Gefangenenlager. Mit uns lebten rund 70 Leute in einer Baracke ohne Innenwände. Die Betten waren nur durch aufgehängte Decken abgetrennt. Es war ununterbrochen Lärm. Ich weiß noch, dass ich in der ersten Nacht neben einem Mädchen lag, das die ganze Zeit weinte. Dort überfiel mich zum ersten Mal ein graues Gefühl des Unwohlseins.
Wie war das Miteinander?
Es gab enge, gute Beziehungen. Vor allem wir Kinder haben zusammengehalten. Aber das mussten wir auch gegen die Kinder im Dorf, die uns verachtet haben. Wir waren die „Lagerstinker“. Dieses Gefühl, ein Mensch zweiter Klasse zu sein, hat mich begleitet. Als meine Frau und ich mit dem Pfarrer den Tag unserer Trauung vereinbart haben, sagte der zu ihr: „Hast du nichts Besseres bekommen als einen Flüchtling?“ Die Ablehnung gegenüber Flüchtlingen war die Gleiche wie heute.
Tatsächlich? Aber heute gibt es doch eine ganz andere Willkommenskultur, viele Menschen helfen Flüchtlingen ehrenamtlich.
Das stimmt. Heutigen Flüchtlingen geht es materiell besser, und auch das ehrenamtliche Engagement der Bürger gab es nach dem Krieg so nicht. Auf der anderen Seite: 1947 forderte ein Funktionär des Bauernverbands, Flüchtlinge nach Sibirien zu schicken. Heute fordert eine AfD-Politikerin, an der Grenze zu schießen.
Was hat Ihnen geholfen, die sechs Jahre im Lager zu überstehen?
Als ich in die Schule kam, war das wie im Paradies. Wir hatten eine Lehrerin, die uns unheimlich geliebt und sich für uns aufgeopfert hat. Sie hat mich in die Welt des Geistes eingeführt, und ich habe nichts anderes mehr gemacht als gelesen und geschrieben. Später ging ich aufs Gymnasium nach Bamberg. Auch dort fand ich es wunderbar. Ich hatte im Grunde in jedem Lebensabschnitt wichtige Bezugspersonen: Meine Großmutter, einzelne Lehrer, später meinen Therapeuten, dann den Doktorvater.
Und Ihre Eltern?
Sie waren – wie viele Erwachsene im Lager – durch die Flucht schwer traumatisiert und mit sich selbst beschäftigt. Viele Männer saßen den ganzen Tag auf dem Bett und haben eine Zigarette nach der anderen geraucht. Die haben sich mit Nikotin betäubt.
Es gab auch sehr viele Betrunkene im Lager, und Einzelne waren gewalttätig. Das lässt sich auf heute übertragen. Was damals die Zigaretten waren, ist jetzt das Smartphone. Meine Kollegen, die mit Flüchtlingen arbeiten, erzählen mir, dass manche Eltern direkt neben den Kindern sitzen, aber sich einfach nicht um sie kümmern. Sie können es nicht aufgrund des Traumas. Es lässt einen abstumpfen.