Im Theater Tri-Bühne führt ein Avatar als „Ich, Bertolt Brecht“ einen „Dialog mit dem Dichter“, den Darstellern und dem Publikum.
Er ist höflich, der rund bebrillte Mann mit hoher Stirn und rundlichem Gesicht, der da schwarz-weiß auf die gläserne Wand projiziert wird. Alle acht Performerinnen und Performer begrüßt er in der Tri-Bühne persönlich „Silvia, hallo, Nataljia, Aki ... und wer noch?“ Auch er stellt sich vor, höchst lebendig, obwohl er längst tot ist. „Meine Damen und Herren, ich heiße Bertolt Brecht. Geboren 1898, gestorben 1956. Gestorben, das ist wichtig. Denn was Sie hier sehen, ist kein lebendiger Mann, sondern ein Schatten. Ein Algorithmus. Ein Echo. Eine Skizze.“ Genauer: Ein von der KI erschaffener Brecht-Avatar interpretiert und kommentiert dessen Leben und Werk.
Als „lehrreiches Theaterereignis mit Schauspiel, Musik und künstlicher Intelligenz“ bezeichnet Regisseur László Bagossy sein Stück. Für „Ich, Bertolt Brecht – Dialog mit dem Dichter“ arbeitete der Künstlerische Leiter der Tri-Bühne zum vierten Mal mit Künstlicher Intelligenz. Er fütterte sie samt Team Monate lang mit Diskursen, Informationen, originaler Tonaufnahmen und Bildern zu dem Mann, der 1926 den Begriff des epischen Theaters prägte. Der also die „vierte Wand“ durchbrach, das Publikum direkt ansprach, der es so aufrütteln wollte aus der Scheinwelt klassischer Illusionsbühne, damit es die großen gesellschaftlichen Konflikte und Zusammenhänge um Krieg, Revolution, Wirtschaft durchschauen möge.
Der digitale Brecht erzählt denn auch, animiert aufploppend oder akustisch aus dem Off, wie er von seiner bibeltreuen Mutter den Luther mitbekam, vom Vater die Ordnung, darüber gottlos und rebellisch wurde. Auch, wie er in den 1920ern Liebschaften und Kinder zurückließ, mit seiner Geliebten Helene Weigel, später „Mutter Courage“, nach Berlin zog, das Kabarett entdeckte, auf Theatermacher Erwin Piscator, Maler Georg Grosz, Komponist Kurt Weill traf. Und seinen Lebenslauf von der Geburtsstadt Augsburg über München und Berlin, das US-Exil bis in die DDR. Der Avatar ist Stichwortgeber für die auf Schlagzeug, Keyboard, Gitarre Musizierenden, und die auf dem Chaiselongue und den Stufen Singenden.
Stephen Crane, Florian Dehmel, Sebastian Huber, Manuel Krstanovic, Natalja Maas, Stefani Matkovic, Silvia Maria Passera und Aki Tougiannidis intonieren leidenschaftlich, empört, nonchalant, stets mitreißend dessen Gedichte und Lieder – einsteigend mit einem, der Brecht inspirierte: François Villon, bedeutendes Enfant terrible der spätmittelalterlichen Dichtkunst Frankreichs. Dessen „Ballade von der Mäusefrau, die in Villons Zelle Junge gebar“, lehrt: „... es ist kein Tier so klein, das nicht von dir ein Bruder könnte sein. Ich weiß die Spur ... nicht erst seit gestern Nacht. Mich hat schon manche Frau zum Tier gemacht.“
Zum Mörder seiner Eltern wurde der 16-jährige Joseph Apfelböck im nachrevolutionären München, mit den Leichen Wochen im Hause bleibend, bis es stank. Brecht dichtete daraus „Jakob Apfelböck“. Dazu schrieb der Journalist Carl Wilhelm Macke, Brecht teile „die helle moralische Empörung über den Elternmord in Haidhausen nicht“, ihm läge „mehr an der ‚Normalität des Grauens’ in einer verlogenen Gesellschaft“.
Diese spielt freilich die Hauptrolle in allen 22 Texten. Von „Marie Farrar“, die nach missglückten Abtreibungen aus Armut zur Kindsmörderin wird, über die Seeräuber-Jenny der Dreigroschenoper, die das rettende „Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen“ herbeisehnt, bis zum „Marsch ins dritte Reich“. „Unglaublich, wie sich das zieht“, heißt es da. „Es ist ein hoher Baum, die deutsche Eiche, von der aus man den Silberstreifen sieht.“ Nicht zu vergessen den Alabama-Song aus der Brecht/Weill-Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“, wo erfleht wird „Oh, show us the way to the next whisky-bar! Oh, don’t ask why, ...!“
Experiment geglückt? Was würde Brecht heute dazu sagen?
Nein und ja. Die Möglichkeiten der KI sind inzwischen weit gediehen; seine Hände sehen echt aus, wenn er sich den Kopf hält, wenn er über seine Werbetexte für kapitalistische Automobile ein Herz formt, er – Daumen hoch – „liked“. Aber kein Dialog entspinnt sich. Die KI kann nur ihr Ding mit Vorhandenem machen.
Der Abend zeigt: Die Antwort ist schon da in Brechts Werk, das aktueller ist denn je.
Ich, Bertolt Brecht – Dialog mit dem Dichter. Weitere Termine in der Tri-Bühne: 15 Oktober, 25., 26 und 27 November.