Der Jugendtraum von dichterischen Erfolgen ist für Hesse wahr geworden. Foto: dpa

Hermann Hesse wurde im Sommer 1892 zweimal in die „Heil- und Nervenanstalt“ in Stetten eingeliefert.

Stetten - Seinen 15. Geburtstag verbrachte Hermann Hesse, dessen Todestag sich am morgigen 9. August zum 50. Mal jährt, in der Anstalt in Stetten. Unfreiwillig. Als Patient. Ein Krankenblatt dokumentiert seine beiden Aufenthalte 1892 in der heutigen Diakonie Stetten.

„Gerne möchte ich fliehen, aber wohin? In Boll lernte ich lachen, dann weinen, in Stetten lernte ich fluchen“, schreibt Hermann Hesse im Herbst 1892 über seinen Aufenthalt in der „Heil- und Nervenanstalt“ und bekommt von seinem Vater im September 1892 zur Antwort: „Wir sehen Dich in einem krankhaften Zustand von dem Du geheilt werden kannst.“ Damals wusste noch niemand, dass Hesse für seine Werke 1946 den Literatur-Nobelpreis erhalten würde, und dass er mit Titeln wie „Siddharta“ und Steppenwolf“ zum meistgelesenen deutschsprachigen Autor avancieren würde.

93 Tage verbrachte Hermann Hesse vom 22. Juni bis zum 5. August und dann nochmals vom 22. August bis zum 5. Oktober 1892 als Patient in der Pflegeanstalt in Stetten. Er wurde zwangseingewiesen. Zum Geburtstag schickten ihm die Eltern einen Blumenstrauß. Er sollte im Remstal gesund werden, hofften seine Eltern, die mit ihrem psychisch schwierigen Kind nicht zurecht kamen. Ein Krankenblatt, ein ärztlicher Bericht und ein paar handschriftliche Aufzeichnungen lassen erahnen, wie es um den damals 15-jährigen Hesse bestellt war. „Er leidet an Gemütsentartung“, steht auf dem maschinengeschriebenen Krankenblatt, das im Archiv der Diakonie Stetten lagert. Über Hesses zweite Einlieferung am 22. August ist in einem anderen Schriftstück nachzulesen: „Er wird wieder eingeliefert, da er sich zuhause nicht fügen kann, er ist grob gegen seine Eltern. Er sträubt sich gegen die Verbringung in die Anstalt und gibt Antworten nur mit zögernder Stimme. Über den Grund seines Betragens gegen die Eltern verweigert er die Auskunft.“

In der Diakonie Stetten erinnert nichts mehr an Hermann Hesse

Die Tage in Stetten waren für Hermann Hesse schwierig, in der Diakonie erinnert heute nichts mehr an den Aufenthalt des späteren Literatur-Nobelpreisträgers. 120 Jahre sind seitdem vergangen. Man weiß, dass er in dem Haus am Schlosshof gewohnt und öfter am Brunnen dort gesessen hat. Um mehr über Hesses Zeit in Stetten zu erfahren, muss man in die Katakomben des Archivs steigen und sich in seine Biografie vertiefen.

Hesse wird als Kind pietistischer Missionare geboren, er hat fünf Geschwister, von denen zwei früh sterben. Das Verhältnis zu seinem Elternhaus war immer schwierig. Ebenso sein Charakter. „Der Kranke selbst war schon als Kind von drei Jahren ein Gegenstand der Sorge für die Eltern, weil er schwere Zornanfälle bekam, mit Zerstörungstrieb. Später besserte sich dieses, ohne dass jedoch die große Reizbarkeit völlig verschwand“, heißt es in einem in Stetten verfassten ärztlichen Bericht. Er sei geistig recht begabt und lerne leicht.

Hermann Hesse fiel durch seinen rebellischen Charakter auf

Als Hermann Hesse im Sommer 1892 nach Stetten kam, hatte er schon eine Odyssee hinter sich. Ein Jahr zuvor hatte er das Landexamen in Stuttgart bestanden und war dann auf die Klosterschule nach Maulbronn gekommen. Bereits dort fiel er durch seinen rebellischen Charakter auf, er entfernte sich beispielsweise für eine Nacht aus der Schule und wurde erst am nächsten Tag gefunden. Der Konflikt mit seinem Vater spitzte sich in dieser Zeit zu. „Ein hervorstechender Zug ist die große Ablehnung gegen seinen Vater“, wird in einer ärztlichen Beurteilung schriftlich festgehalten. Bevor Hesse nach Stetten kommt, bringt ihn sein Vater bei dem befreundeten Theologen Christoph Blumhardt in der Anstalt in Bad Boll unter. Ohne Erfolg. Hesse versucht sogar, sich mit einem Revolver das Leben zu nehmen.

Dieses Ansinnen war wohl nicht neu und schon früher aufgetaucht. Im Krankenblatt in Stetten ist nachzulesen: „Von Weihnachten 1891 an hat sich eine nervöse Erregung bei ihm eingestellt, verursacht durch verschiedene Kleinigkeiten. Die strenge Disziplin hat ihm nicht behagt.“ Wiederholt seien ihm bei Nacht „Gedanken gekommen, es wäre besser, wenn er gar nicht mehr da wäre. Wegen seines mürrischen, aufgeregten Wesens werde ihn doch niemand vermissen.“

Der Dichter schrieb: „Stetten ist mir die Hölle“

Hesse ist depressiv, als er unangemeldet von Christoph Blumhardt nach Stetten zu Pfarrer Schall in die Heil- und Nervenanstalt gebracht wird. Fünf Tag nach seiner Einlieferung dort schreibt er jedoch an die Eltern: „Mein Zimmer ist schön und groß, Herr Ettlinger und der Wärter sind freundlich. Ich arbeite immer im Garten, Erbsen lesen, Wege rechen, gießen, hacken.“ Hermann Hesse findet keine geistigen Herausforderungen in Stetten, die ihm adäquat wären. Im ärztlichen Bericht wird er als „schwer zu behandeln“ eingestuft: „Er leidet an Größenwahn, fühlt sich zu Großem berufen, träumt von großen dichterischen Erfolgen.“ Er schicke sich zwar in die Ordnung, sei aber oft „verdrossen und lebensüberdrüssig.“ Als dann eine allmähliche Besserung eintritt und er lieber arbeitet und sich nach Hause sehnt, wird er nach rund sechs Wochen am 5. August 1892 aus der Heil- und Nervenanstalt Stetten entlassen. Das währt leider nicht lange, zweieinhalb Wochen später wird er erneut zwangsweise dorthin gebracht, wieder für sechs Wochen. Daraufhin schreibt er an seine Eltern, dass 1892 für ihn ein unruhiges Jahr sei, „Stetten ist mir die Hölle“. Aufs Neue äußert er Gedanken, dass er nicht mehr leben, sondern lieber „tot und kalt“ sein wolle. Der pubertierende Hermann Hesse fühlt sich von seinem pietistischen Elternhaus missverstanden und schreibt nach Hause: „Ihr seid Christen und ich nur ein Mensch.“

Von Stetten kam Hermann Hesse ans Gymnasium nach Bad Cannstatt, wo er die Mittlere Reife ablegte und dann die Schule verließ. Aus der Zeit in Stetten sind außer den Briefen an die Eltern auch einige Gedichte erhalten, in denen man den nach Liebe lechzenden Jüngling erkennt, der offenbar auch in diesem Punkt anders ist als seine Altersgenossen.

Hermann Hesse stirbt mit 85 Jahren am 9. August 1962 in Montagnola im Tessin. Dort lebte er 43 Jahre lang und entdeckte neben dem Schreiben auch das Malen.