... ebenso Harings Arbeit im Atelier .. Foto: Getty Images Europe

Sein Baby im Strahlenkranz kennt nahezu jeder. Was aber hat der 1990 mit 31 Jahren gestorbene Maler Keith Haring noch alles geschaffen? Was hat ihn angetrieben? Die Albertina in Wien versucht eine Antwort.

Stuttgart - Am 14. Oktober 1978, Keith Haring ist gerade 20 Jahre alt, notiert der in Reading (Pennsylvania) Geborene in seinem Tagebuch: „Keith Haring denkt in Gedichten. Keith Haring malt Gedichte. Gedichte erfordern nicht unbedingt Worte. Worte ergeben nicht unbedingt Gedichte.“

Da ist einer auf der Suche – und entwirft doch ein für ihn bereits gültiges Programm: „In der Malerei treten Worte in Form von Bildern auf. Ägyptische Kunst/Hieroglyphen/Piktogramme/Symbolik.“

Und mehr noch: „Das Publikum braucht Kunst, und der ,selbst ernannte Künstler‘ hat die Pflicht, diesem Bedürfnis des Publikums zu entsprechen, statt eine bourgeoise Kunst für einige wenige zu machen und die Massen zu ignorieren.“

Keith Haring nutzt freie Werbetafeln der New Yorker U-Bahn

Gerade in New York angekommen, zeichnet Haring mit weißer Kreide auf jene schwarzen Papiergründe, die in den U-Bahn-Schächten nicht vermietete Werbetafeln kennzeichnen. Haring muss schnell sein, sich auf seinen Strich verlassen können. Vier Jahre später notiert er am 18. März 1982: „Mein Beitrag zur Welt ist meine Fähigkeit zu zeichnen. Ich will so viel zeichnen, wie ich kann, für so viele Menschen, wie ich kann und solange ich kann. Zeichnen ist im Grunde noch dasselbe wie in prähistorischen Zeiten. Es bringt Mensch und Welt zusammen. Es lebt von der Magie.“

Wirken diese Idee, dieser Traum, diese Behauptung heute noch? Das ist die Ausgangsfrage eines Ausstellungsprojektes in der Albertina in Wien. Unter Leitung von Klaus Albrecht Schröder in den vergangenen 20 Jahren vom fast vergessenen Kupferstichkabinett zu einem der weltweit führenden Museen aufgestiegen, will die von Dieter Buchhart erarbeitete Ausstellung nicht weniger, als mit der bisher größten Keith-Haring-Ausstellung überhaupt den Ausgangspunkt des Schaffens des 1990 mit nur 31 Jahren gestorbenen Künstlers freizulegen.

„Keith Haring – The Alphabet“ ist die Schau betitelt. Darum also soll es gehen: um Harings Anspruch, die Welt in einem Alphabet der Bilder fassbar zu machen. Und um den tiefen Ernst dabei. „Das Leben ist so zerbrechlich“, schreibt Keith Haring am 7. Juli 1986 in seinem Tagebuch, „eine feine Linie trennt es vom Tod. Mir ist klar, dass ich mich auf dieser Linie bewege“. Leben und Kunst durchdringen sich hier, lebt Keith Haring in den 1980er Jahren doch in Höchstgeschwindigkeit und zieht er als Maler und Zeichner seine mit aller Energie aufgeladene Linie über nahezu jedes Material.

Albertina zeigt 15 Meter breites Haring-Bild „Matrix“

Über sechseinhalb Meter erstreckt sich 1978 ein in sich dicht verwobenes Farbformfeld. Von Haring selbst als „abstrakt“ bewertet, entdeckt man doch eine Unzahl von Umrissfigurationen, die Kleinstlebewesen ähneln. Harings Ursuppe ist zugleich eine Hommage an die Moderne – an die buchstäblichen Farbklänge der französischen Malerei des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ebenso wie an deren schneidend scharfen Neuaufruf im Schaffen des niederländisch-amerikanischen Malers Willem De Kooning (1904–1997).

Mehr als 15 Meter misst 1983 Keith Harings „The Matrix“. Ein Programmbild, mit dem und in dem der jetzt 25-Jährige sein Bild-Vokabular fast vollständig versammelt. Es ist eine Welt voller Stürze, voller Abgründe, ein Szenario, in dem sich gleich mehrere gottgleiche Figurationen aus dem überbordenden Ringen erheben und aus dem auf dem ersten wie auf dem letzten Bildmeter Babys krabbelnd allen Unholden zu entkommen scheinen.

Lässt also „Die Matrix“ noch Hoffnung aufscheinen, begibt sich Keith Haring nur ein Jahr später auf einen Höllenritt. Großformate von 1984, 1985 und 1986 (nun mit Acryl und Öl auf Leinwand) zeigen Ungeheuer, die Menschen eher ausscheiden als gebären, ebenso schnell fressen wie ausspucken. Pieter Bruegels des Älteren 1562 alle nachfolgenden Jahrhunderte bildnerisch mit prägende Szenerie „Sturz der gefallenen Engel“ ist nicht weit – doch anders als bei Bruegel gibt es bei Keith Haring kein Entkommen, sind rettende Engel nicht in Sicht.

Aids zersetzt die Welt

Das Zersetzen der Körper erlebt Haring real. „Meine Freunde fallen um wie die Fliegen“, notiert er am 20. März 1987. Ein Virus frisst sich durch die eben noch so stolze Kulturszene, „eine von Menschen geschaffene Krankheit“ (Haring): Aids.

Die Albertina gibt den Werken von Keith Haring Raum. Viel Raum. Damit unterläuft Dieter Buchhart das Arbeitsprinzip der sich ständig fortsetzenden Linie und des schnellen Besetzens jedweden Malgrundes aber nur scheinbar. Denn deutlich wird in dieser Schau nicht nur die enorme zeichnerische Qualität Keith Harings. Vielmehr erlaubt gerade die hier mögliche Auseinandersetzung mit dem einzelnen Werk, das Gesamt-Panorama Keith Harings neu zu sehen. Als Schaffen, das aus der „Matrix“ Einzelfigurationen herausbricht, heranzoomt, untersucht und in Versuchsanordnungen zu Information, Religiosität, Sexualität und Unterdrückung einsetzt.

Zeitlos gültiges Bildvokabular

Wie aber passt all dies zu Keith Harings Versuch, von Mitte der 1980er Jahre an die (Verwertungs-)Kontrolle über seine Figurationen zurückzugewinnen? „Meine Arbeiten“, schreibt Haring am 7. Oktober 1987, „erschienen in allen Erdteilen schon auf T-Shirts und Kleidern, bevor ich auch nur ein einziges echtes KH-T-Shirt hergestellt hatte.“ Haring notiert dies ohne Klage. „Dies ist die Kunst eines Informationszeitalters, das sich so schnell voranbewegt, dass es vielleicht bald nicht mehr einholbar ist und sich selbst davonläuft“.

Keith Haring ist zugleich Bannerträger dieser Entwicklung wie auch ein Künstler, der über die Rückbezüge durch Jahrhunderte europäischer Kunstgeschichte und Jahrtausende einander ablösender Hochkulturen ein universell und zeitlos gültiges Bildvokabular schafft. Die Albertina ruft dieses mit „The Alphabet“ wach – begeisternd, bestürzend, berührend.

„Keith Haring – The Alphabet“. In der Albertina in Wien. Bis zum 24. Juni (täglich 10–18, Mi und Fr 10–21 Uhr). Mehr unter: www.albertina.at