Nicht nur die SPD wirkt angesichts drohender Regierungsverantwortung wie gelähmt. Foto: dpa

Die vollen Kassen des Staates laden förmlich dazu ein, in die Regierung zu gehen. Dennoch sind die Parteien von einer kaum begreiflichen Angst vor der Verantwortung befallen. Das muss sich ändern, meint unser Berliner Korrespondent Roland Pichler.

Berlin - Das verstehe, wer will. Schon jetzt steht fest, dass Deutschland die längste Regierungsbildung seit Bestehen des Grundgesetzes im Jahr 1949 erlebt. Die Angst vor dem Regieren ist angesichts der glänzenden politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen allerdings kaum nachzuvollziehen. Das Zaudern der Parteien hängt in erster Linie mit parteipolitischen Befindlichkeiten zusammen, doch diese können nicht das Maß aller Dinge sein. Zu wenig Berücksichtigung findet in der Debatte bisher, dass die Startbedingungen für eine Regierung selten so gut gewesen sind wie in diesem Jahr.

Die künftige Regierung kann aus dem Vollen schöpfen

Während frühere Koalitionsregierungen vor der Notwendigkeit standen, zu unpopulären Kürzungen greifen zu müssen, kann die künftige Regierung aus dem Vollen schöpfen. Das ist keine Übertreibung. Gerade für die verunsicherte SPD, die noch immer unter der richtigen, aber für die Partei folgenreichen Agendapolitik Gerhard Schröders leidet, müsste das eine frohe Kunde sein. Die Wirtschaftsforschungsinstitute erwarten im kommenden Jahr das stärkste Wachstum seit sieben Jahren. Hinzu kommt: die Kassen des Staates sind randvoll. Damit ist absehbar, dass die nächste Regierung keine unpopulären Reformen auf den Weg bringen muss, um Geld zu sparen. Im Gegenteil.

Die Gefahr liegt eher darin, dass die Bündnispartner der Versuchung unterliegen, das Geld mit der Gießkanne zu verteilen. Noch nie zuvor hatte eine neue Regierung einen so großen Spielraum. Das zeigt der Blick auf die wirtschaftlichen Kerndaten. Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit der Wiedervereinigung nicht mehr. Die Zahl der Beschäftigten liegt mit mehr als 44 Millionen auf einem neuem Höchststand und klettert 2018 noch weiter. In den Sozialversicherungen haben sich wegen des guten Arbeitsmarkts Rücklagen von 100 Milliarden Euro aufgetürmt.

Was für Gestaltungsmöglichkeiten hätte die Politik!

Ähnlich komfortabel ist die Lage in den öffentlichen Haushalten. Der Bund dürfte für dieses Jahr einen zweistelligen Milliardenüberschuss ausweisen. Auch die Länder schreiben schwarze Zahlen. Welche Gestaltungsmöglichkeiten die Politik in naher Zukunft hätte, ist während der Sondierungen zur letztlich gescheiterten Jamaika-Koalition deutlich geworden: In den kommenden vier Jahren kann die neue Regierung 45 Milliarden Euro zusätzlich verplanen. Das ist keine willkürliche Größe, sondern der Spielraum, den der geschäftsführende Bundesfinanzminister Peter Altmaier (CDU) berechnen ließ. Es handelt sich um eine einmalige Situation. Der Bund könnte damit klare Akzente setzen – etwa bei der Digitalisierung, der Bildung, in der Steuer- und Sozialpolitik. Die Scheu vor dem Regieren muss angesichts dieser Möglichkeiten hochgradig verwundern.

Die SPD muss sich bewegen

Notwendig ist jetzt, dass Union und SPD zum Auftakt der Sondierungen ihre Nabelschau beenden. Sie sollten den Blick darauf richten, was sie für die eigenen Wähler erreichen können. Parteien werden gewählt, um die Lebenssituation der Menschen zu verbessern. Die nächste Bundesregierung hat dazu vielerlei Chancen. Wenn die Politik immer nur kneift, ist das kein Zeichen von Stärke. Die FDP macht gerade die Erfahrung, dass ihre Wähler aus dem unternehmerischen Mittelstand in höchstem Maß enttäuscht sind. Die Absage an Jamaika wirkt nach. Union und SPD sollten daraus ihre Schlüsse ziehen. Verzagtheit bei der Regierungsbildung kann sich rächen.

Der Perspektivwechsel ist überfällig. Ins Zentrum der Debatte sollte die Frage rücken, wie die Politik das Land voranbringt. Die gute Ausgangslage erleichtert die Bildung einer neuen Koalition. Denn die finanziellen Möglichkeiten lassen jedem Partner genügend Raum zur Profilierung. Die vorherrschende Wehleidigkeit wird der Situation in keiner Weise gerecht. Die Bedingungen sind so, dass sie Lust aufs Regieren machen müssten.