Bekommt man auf diese Weise eine Birke los? Foto: dpa-Zentralbild

Das Leben mit einer Birke bringt unsere Autorin an den Rand ihrer Kräfte, führt aber auch zu manchen Erkenntnissen über sich selbst – und das Leben.

Stuttgart - Eigentlich mochte ich Birken immer sehr. Ihren eleganten wie mit weißem Seidenpapier umwickelten Stamm. Die filigranen Zweige und Blätter, die aussehen wie Herzen oder Tränen, je nachdem, in welcher Stimmung man gerade ist. Auch die Samen, deren Form an kleine Schmetterlinge erinnert, die durch die Lüfte tanzen und sich dann wie Goldregen über das Land legen.

Ich bin mit Birken aufgewachsen. Meine Großeltern hatten zwei haushohe Exemplare in ihrem Garten stehen. Als Kind habe ich darunter mit Freundinnen mein Lager gebaut, habe dahinter Verstecken gespielt oder einfach nur ihren Geschichten gelauscht. Wenn man unter einer Birke sitzt, durch deren Äste der Wind streift und die Blätter zum Wispern bringt, dann ist es, als erzähle der Baum dir sein Geheimnis.

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Dass die Großmutter jeden Herbst die Birken verfluchte und schwor, sie im nächsten Jahr umhacken zu lassen – was sie dann doch nie tat – habe ich damals nicht verstanden. Aber Erwachsene taten in meinen jugendlichen Augen viele merkwürdige Dinge: Sie benutzten Handstaubsauger, hängten Türkränze auf und fuhren samstags mit einem sauberen Auto in die Waschstraße. Alles spießige Dinge also, die ich bestimmt nie tun würde und über die ich mir – da mein darauffolgendes Leben weithin birkenfrei verlief und der Garten der Großeltern längst verkauft ist – auch keine Gedanken mehr machte.

Dicker Teppich aus Blättern

Bis ich vor etwa zwei Jahren, es war im Spätsommer, mit meiner Familie unter eine Birke zog. Eigentlich steht sie im Nachbarvorgarten, aber so dicht an der Heckengrenze, dass sie sich wie unser Baum anfühlt. Am Anfang war ich begeistert. Die Birke, die unser zweistöckiges Haus und auch alle drumherum überragt, ist ein Blickfang in der ansonsten recht baumlosen, kerzengeraden Straße. Sie ist wie eine weithin wehende grüne Fahne, die markiert: Dort, bei der Birke, da bin ich zu haus’.

Auch die ersten fallenden Blätter störten mich noch nicht. Es sah sogar recht dekorativ aus: gelbe Farbkleckse auf dem ansonsten tristen Asphalt – fast zu schade, um sie wegzufegen. Ich ahnte nicht, dass das nur die Vorhut war. Vielleicht konnte ich mir auch einfach nicht vorstellen, dass dieser hübsche Baum in den kommenden Wochen eine Art Blätter-Tsunami vor unserem Haus veranstalten würde. Dabei hatten uns die Nachbarn gewarnt und schon kurz nach unserem Einzug mit ahnungsvollen Blicken Richtung Birke geraunt: „Wartet nur, bald geht es los!“

Und wie es losging. Jeden, wirklich jeden Tag blies der Herbstwind einen dicken Teppich aus Blättern und Zweigen vor unsere Tür, auf den Gehsteig, in die Einfahrt – und zwar tatsächlich nur vor unserem Haus. Anfangs lachte ich noch darüber. Ich hatte die naive Vorstellung, dass sich das Ganze sicher in Kürze erledigt haben würde, dass es ja wohl kaum Monate dauern könne, bis ein Baum all sein Laub abgeworfen hätte.

Schwäbische Sisypha

Welch ein Irrtum! Eine Birke ist kein Ahorn, der seine Hüllen auf einmal fallen lässt und es den Kehrern mit den großformatigen Blättern einfach macht. Die Birke ist eine Sadistin, die langsam quält. Die Wochen vergingen, aber die Blätter am Baum schienen nicht weniger zu werden. Es war, als würden sie über Nacht nachwachsen, um dann – früh ergoldet – direkt wieder zu Boden zu segeln. Das ging bis in den Dezember hinein so.

Und mit mir passierte etwas. Ich, die mir die Kehrwoche nie etwas bedeutet hatte, die ich sie in früheren Wohnungen gern mal ganz ausfallen ließ, entwickelte eine Art Besenfixierung. Ich mutierte zu einer schwäbischen Sisypha, gefangen in einer ewigen großen Kehrwoche. Unermütlich fegte ich mit meinem Strohbesen (8,50 Euro, fünffache Naht) die Blätter zusammen, die jetzt nur noch tränenförmig erschienen, um sie dann mit Schäufele und Besen in einen roten Eimer zu befördern und von dort in eine große grüne Plastiktonne, die ich dann ins Auto lud, um sie – der eigene Kompost war längst übervoll – zum Grüngutsammelplatz in Möhringen zu fahren.

Die Familie schüttelte den Kopf. Appelle, doch einfach abzuwarten, bis alle Blätter zu Boden gefallen wären, verhallten im Herbstwind. Immerhin war es ja auch sehr befriedigend, nach getaner Arbeit einen blankgefegten Gehsteig zu betrachten – zumindest für wenige Stunden. Aber da war noch etwas anderes: Offenbar brachte dieser Baum eine Unordnung in mein durchorganisiertes und kontrolliertes Leben, die für mich kaum zu ertragen war.

Träume von einer riesigen Motorsäge

Es war ein stilles Kräftemessen zwischen dem Baum und mir, der mir keine geheimnisvollen Geschichten mehr zuflüsterte, sondern ein hämisches „Ätsch!“ entgegenzischte oder – wenn er philosophisch gestimmt war – zurief: „Strampel du nur in deinem Hamsterrad. Aber ich werde hier noch stehen und Blätter abwerfen, wenn dein Besen und du längst Humus sind.“ So ähnlich müssen sich Polarforscher im Schneesturm fühlen oder Extrembergsteiger im Gewitter – mindestens!

Und während die Nachbarn mich mitleidig beobachteten oder mir aufmunternde Worte zuriefen, träumte ich heimlich von einer riesigen Motorsäge, einem Sturm Lothar’schen Ausmaßes oder zumindest einem kleinen Borkenkäferbefall. Auch den Kauf eines Laubbläsers erwog ich tatsächlich, obwohl der bislang für mich in die Kategorie Tischstaubsauger gefallen war. Und wenn ich nach der Kehrwoche die Tür mit dem Türkranz hinter mir schloss, dann fragte ich mich, ob mich nun die Birke zu dieser Spießerin gemacht hatte – oder ob die vielleicht schon immer tief in mir schlummerte und wann es eigentlich passiert war, dass so ein Garten nicht mehr Kinderspiel, sondern nur noch Arbeit war. Und vielleicht stellte ich mir manchmal auch die Frage, ob ich tatsächlich keine anderen Probleme hätte als diesen Baum im Vorgarten!

Die Birke lehrt Gelassenheit

Die Birke erweiterte meinen Horizont. Zum Beispiel lernte ich besagten Grüngutsammelplatz kennen, einen Ort am Rande der Stadt, an dem sich allmorgendlich Gartenbesitzer treffen, um aus ihren Kofferräumen und von ihren Anhängern sorgfältig gebündelte Äste und Tonnen voll Unkraut, Blättern und Rasenschnitt zu laden. Dabei beäugen sie sich anerkennend bis neidisch („Wer hat den größten Anhänger?“) oder klopfen sich auch mal verbal auf die Schulter („Ist ja toll, was alles in Ihren Kleinwagen passt!“). Und man kann sich gut vorstellen, dass an so einem Grüngutsammelplatz (auch Häckselplatz genannt) vieles möglich ist: vom Beginn großer Freundschaften über die Anbahnung von Verhältnissen bis zum Showdown eines Nachbarschaftskriegs. Vielleicht ist der Grüngutsammelplatz ja ein Spiegel des Lebens, in dem man beobachten kann, wie aus ehemals blühenden Organismen Schnittgut wird, dann Kompost und am Ende Erde, die man abholen kann, um darin neues Leben zu pflanzen.

Die Birke und ich erleben jetzt unseren dritten Herbst. Und – was soll ich sagen – ich bin gelassener geworden. Ich starre nicht mehr neidisch auf Gärten, in denen nur Nadelgehölze wachsen. Ich überlege nicht mehr, eine Petition zu starten, die das Pflanzen von Birken im Stadtbereich verbietet und sie in ukrainische Birkenwälder und aufs freie Feld verbannt. Die Birke hat mich Gelassenheit gelehrt.

Als kürzlich die ersten Blätter vor unserer Tür lagen, kamen sie mir schon wieder ein bisschen herzförmig vor. Und wenn ich meinen dreijährigen Sohn beobachte, wie er fasziniert die Samen-Würschtle aufsammelt oder lachend durch den Blätterteppich watet, dann ist es fast wieder ein bisschen so wie damals, im Garten meiner Großeltern.