Szene aus „Unfreezed“ mit Lena-Maria Fistarol (li.) und Pauline Stör Foto: Maor Waisburd

Katja Erdmann-Rajskis Stück „Unfreezed“ hatte Premiere im Treffpunkt Rotebühlplatz.

Stuttgart - Die Szene ist dem fotokünstlerischen Vorbild nachempfunden: Bügelbrett, gefüllter Wäschekorb, ein Regal mit Fernsehgerät, ein Tisch mit Teekanne und Zeitschriftenstapel, zwei Sessel und ein Sofa. Möbel im Stil der 1960er Jahre. Und doch weicht das Interieur auf der Bühne des Robert-Bosch-Saals im Treffpunkt Rotebühlplatz in einem Punkt entscheidend von der Wohnung auf Jeff Walls 2005 entstandenem Werk „A view from an apartment“ ab. Während auf dem Lichtbild zwei große Fenster den titelgebenden Blick auf den Hafen von Vancouver öffnen, bietet Katja Erdmann-Rajski mit ihrem neuem Tanztheaterstück „Unfreezed – A view from an apartment oder Wer ist eigentlich Theo?“ keinen Ausblick, wohl aber Einblicke in die Banalitäten häuslichen Einerleis. Am Donnerstag hatte die Koproduktion zwischen dem Treffpunkt Rotebühlplatz und dem Produktionszentrum Tanz und Performance Premiere.

Das Fenster: Einmal taucht es an der Rückwand als Projektion und in Gestalt von Jeff Walls Fotografie doch auf. Als Verbeugung vor der Szenerie, die Erdmann-Rajski in ihrer gewohnt hintergründigen, auch sperrigen Art befragt. So stellt die Choreografin ihren beiden Hauptakteurinnen – die eine mit Bügelwäsche beschäftigt, die andere auf dem Sofa lesend – eine unbewegliche Figur an die Seite, dargestellt von wechselnden Akteuren. Fast 90 Minuten lang reckt sie ein verwickeltes Wäschestück in die Höhe, als wäre es ein Beweisstück oder eine Monstranz. Anklage und Anbetung fallen hier in eins. Nach dem Stellvertreterprinzip verfährt Erdmann-Rajski auch bei anderen Figuren. Akteure lösen sich aus dem Publikum, nehmen wie Doppelgänger die Haltung der Darsteller ein, um diese dann zu ersetzen. Dass Erdmann-Rajski rund zwanzig Laien in ihr Stück eingebunden hat, ist kein Nebenaspekt. Sie hat mit ihnen so sorgsam gearbeitet, dass ihre Kurzauftritte in der Qualität des Körperausdrucks nicht hinter denen der Profis zurückstehen.

Wer ist eigentlich Theo?

Drei Mal beginnt das Stück mit derselben Sequenz, um sich dann unterschiedlich zu entwickeln. Lena-Maria Fistarol ist die Frau am Bügelbrett, die mit ihrer stoischen Wandlungsfähigkeit zur heimlichen Hauptakteurin wird. Ihr Kontrapunkt ist Pauline Stör, die agile Lesende auf dem Sofa. Beide bleiben für sich, selbst wenn sie sich synchron in die Couch verkrallen. Da ist es nur konsequent, dass Erdmann-Rajski die Körpersprachen ihrer Tänzerinnen unterscheidbar gestaltet: Die eine ist raumgreifend geschmeidig, die andere eher kantig und aufgesplittert. Die Frauen eint, dass sie sich im Klammergriff ihrer Häuslichkeit eingerichtet haben. Der Zeitschriftenstapel auf dem Couchtisch scheint dabei genauso unbezwingbar zu sein wie der zu bügelnde Wäscheberg.

„Wer ist eigentlich Theo?“, fragt die Choreografin in ihrem Alternativtitel und fantasiert so eine männliche Figur herbei, die es auf Jeff Walls Fotografie nicht gibt. Theo kann Marek Ranic sein, der die Frauen wie ein Geist umgibt. Oder ist Theo eine unbestimmte Sehnsucht, geweckt durch Schlager aus dem Radio? Der auf elektronische Musik spezialisierte Matthias Schneider-Hollek ergänzt die Bach-Kantaten mit einer Klangcollage aus Störgeräuschen und Retro-Hits, darunter „Theo, wir fahr’n nach Lodz“. Dieser Seitenhieb auf das Hausfrauendasein von gestern lässt das Stück aus der Zeit rutschen. Zu gegenwärtig agiert das sehenswerte Tänzerkollektiv samt Laiendarsteller für diesen anachronistischen Rückgriff, der den Stil des Mobiliars wichtiger nimmt als die Figuren.

Weitere Vorstellungen: 15. September und 27. Oktober um 20 Uhr sowie am 28. Oktober um 18 Uhr. Kartentelefon: 0711-1873-800.