Ein Kirchenmann der klaren Worte: der katholische Stadtdekan Christian Hermes. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Angesichts der Studie über Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche sind viele Gläubige erschüttert. Die Kirche muss sich deshalb ändern, fordert der katholische Stadtdekan Christian Hermes und nimmt im Interview kein Blatt vor den Mund.

Stuttgart - Im System katholische Kirche stimmt etwas nicht – was den Umgang mit Sexualität und Machtstrukturen betrifft. Diese Ansicht vertritt Stadtdekan Christian Hermes, der sich in dieser Woche mit heftiger Kritik zu Wort gemeldet hat. Das löst Nachfragen aus.

Herr Hermes, was hat Sie veranlasst, jetzt mit Ihrer Kirchen-Kritik an die Öffentlichkeit zu gehen?

Die Tatsache, dass uns blankes Misstrauen entgegenschlägt und auch sehr viele treue und gutwillige Kirchenmitglieder zutiefst verunsichert und enttäuscht sind. Und dass wir feststellen müssen, dass wir es nicht mit Einzelfällen, sondern mit systemischen Fehlern und institutionellem Versagen zu tun haben.

Was meinen Sie?

Es geht um theologisch hoch aufgeladene Kirchenstrukturen, bei denen sich zeigt, das sie sexuellen Missbrauch nicht verhindert haben, und mehr noch: teilweise sogar begünstigt haben. Es gibt hier ein Versagen im System, aber, wie mir scheint, auch ein Versagen des Systems.

Können Sie das erläutern?

Im Kirchenrecht gibt es die Kategorie des göttlichen Rechts. Damit wird auch die hierarchische und monarchische Struktur der Kirche begründet. Wenn diese Strukturen Transparenz und Kontrolle verhindern und klerikalen Machtmissbrauch begünstigen, kann das jedoch unmöglich göttlicher Wille sein. Wie sieht es denn aus, wenn wir nicht einmal die weltlichen Standards guter Führung einhalten? Die Kirche täte gut daran, Errungenschaften der politischen Geschichte wie Gewaltenteilung, Amtszeitbegrenzungen, Mitbestimmung, Checks and Balances, unabhängige Gerichtsbarkeit und so weiter zu beherzigen.

Bei Ihnen hat sich einiges angestaut.

Es ist unsere Kirche, in der sich einiges angestaut hat. Das hat sich durch die Veröffentlichung der Missbrauchs-Studie in Deutschland, aber auch die Befunde aus den USA, aus Irland, Chile, Australien und anderen Ländern entladen. Menschen, die sich mit dieser Kirche verbunden fühlen, sind im Mark erschüttert.

Sie auch?

Für mich ist der Punkt erreicht, wo ich mich frage, was ich mittragen und damit mitverantworten kann. Es gibt ja auch die Sünde durch Unterlassung und Schweigen. Vergangenen Sonntag sind in St. Eberhard erstmals zwei neue Glocken erklungen. Auf der einen steht ein Satz des aus Stuttgart stammenden Paters Rupert Mayer: „Ich müsste noch viel mehr leiden, wenn ich schweigen müsste.“ Ein Satz, den wir bewusst „an die große Glocke hängen“. Wir wollen doch für Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit stehen. Das Vertuschen und Verschweigen muss ein Ende haben. Überall und auch in der Kirche.

Wer hat sich schuldig gemacht? Die Kirche insgesamt?

Es ist nachvollziehbar, wenn Außenstehende die Kirche insgesamt in Haftung nehmen. Ich verstehe allerdings nicht, wenn kirchliche Amtsträger Schuld kollektivieren, in dem sie sagen: „wir“ seien schuldig geworden. Wer ist denn „wir“? Es muss klar benannt werden, welcher Bischof sich nicht ordentlich an der Missbrauchs-Studie beteiligt hat, wo Institutionen versagt haben. Warum wird das nicht klar gesagt? Warum ist der Vorschlag, einen innerkirchlichen Strafgerichtshof für solche Fälle einzusetzen, wieder in der Schublade verschwunden? Darauf möchte ich Antworten haben.

Wie ist die Situation in Stuttgart? Gab es hier auch Missbrauchsfälle?

In meiner Zeit als Dekan, also seit 2011, ist mir kein Fall bekannt, bei dem die Kommission Sexueller Missbrauch oder die Staatsanwaltschaft Straftaten ermittelt hätte. Ob die Kommission mit Fällen aus der Vergangenheit befasst war oder mit Vorwürfen, die nicht zu Verfahren geführt haben, weiß ich nicht, weil die Kommission streng vertraulich arbeitet. Klar ist für mich: Jemand, der sich daneben benimmt, hat in der Pastoral nichts verloren.

Haben Sie Verständnis für Menschen, die sich von der katholischen Kirche abwenden?

Ich verstehe, wenn Menschen sich abwenden und sagen, ich kann mich damit nicht mehr identifizieren. Wir können nur ganz demütig darlegen, was wir tun in der Aufarbeitung und Prävention. Ich gehe trotzdem davon aus, dass wir in hoher Zahl Austritte haben werden.

Waren Sie selbst schon an dem Punkt, an dem Sie sich abwenden wollten?

Nein. Ich bin Priester dieser Kirche und bin entschlossen, für meine Überzeugungen einzustehen. Ich übe Kritik nicht an der Kirche, sondern in meiner Kirche, weil ich sie liebe.

Was muss jetzt konkret passieren?

In unserer Diözese haben wir bereits sehr gute und weitgehende Regelungen zur Prävention und für den Schutz des Kindswohls getroffen. Das ist besonders ein Verdienst von Bischof Fürst, der hier seit Jahren entschlossen vorangeht. Ganz wichtig sind nun die Nachhaltigkeit, regelmäßige Kontrolle und eine dauerhafte Kultur der Aufmerksamkeit.

Und Sie wollen den Zölibat öffnen?

Es gibt keinen kausalen Zusammenhang zwischen Zölibat und Pädophilie. Klar ist aber, dass wir vor allem in der Vergangenheit in unserer Kirche eine Sexualmoral erlebt haben, die Menschen nicht geholfen hat, ein gesundes Verhältnis zu ihrer Sexualität zu entwickeln, sondern eher auf Unterdrückung ausgerichtet war. Der Zölibat wird gefährlich, wo Männer, die ein Problem damit haben, in der Verdrängung die Lösung suchen. Ich bin für die Öffnung des Zölibats, nicht für die Abschaffung. Die Möglichkeit der Befreiung vom Zölibat sollte mehr genutzt werden, wie dies ja zum Beispiel bei konvertierenden anglikanischen Pfarrern schon geschehen ist. Ich persönlich empfinde den Zölibat als sinnvolle Lebensform. Wichtig ist es aber, Priester darin besser zu begleiten.

Was erwarten sie vom Papst?

Ich erhoffe mit vielen Gläubigen, dass der Heilige Vater sehr genau seine Verantwortung wahrnimmt, in dem, was er tut und sagt. Wir haben nun eine Äußerung von ihm gehört, die mich und viele umgehauen hat. Papst Franziskus hat Abtreibung mit einem Auftragsmord verglichen. Er weiß selbst, dass das nicht der kirchlichen Lehre entspricht, die immer die moralische Schuld auch nach den Umständen bemisst. Da müssen wir auch die Gewissensnöte der Frauen sehen und die konkreten Situationen.

Wie reformfreudig ist der Papst?

Papst Franziskus hat viel Gutes angestoßen und in Bewegung gesetzt. Grundsätzlich habe ich den Eindruck, dass es aber bei allen Themen um Sexualität und Beziehung viele Spannungen und Verknotungen gibt und wir so nicht weiterkommen. Die Kirche sollte sich, gerade nach diesen Vorfällen, in Fragen der Sexualethik einfach mal ein paar Jahre eine Art Bußschweigen auferlegen. Einfach mal den Menschen zuhören und nachdenken, statt ständig irgendwelche Beurteilungen und Bewertungen über das Leben und die Sexualität der Menschen rauszuhauen.

Sie äußern sich unerschrocken. Was heißt das für Ihre Karriere in der Kirche?

Ich bin sicher nicht Priester geworden, um Karriere zu machen. Ich bin mit mir im Reinen und sage in großer Klarheit: Sollte das, was ich jetzt sage und tue für andere ein Zeichen dafür sein, dass ich ein schlechter Priester bin, dann möchte ich in einer Institution, die so denkt, keine Karriere machen. Aus ethischen Gründen verbietet es sich dann sogar.