In Assisi, am Grab seines großen Heiligen-Patrons Franziskus, hat der Papst am Samstag seine neue Enzyklika unterzeichnet. Foto: dpa/Divisione Produzione Fotografica

In erweitertem Rahmen bekräftigt der Papst mit seiner neuen Enzyklika seine Appelle gegen eine „kranke Welt“.

München - Die Tatsache, dass der Reformbedarf der eigenen Kirche gerade bei Katholiken in Deutschland besonders drastisch gespürt und wortstark angegangen wird, fördert eine Selbstbezogenheit, die nicht mehr wahrnimmt, was in der Weltkirche sonst noch geschieht. Deutsche Reformkatholiken neigen dazu, den Papst in einer Bringschuld allein ihnen gegenüber zu sehen und den globalen Horizont auszublenden, in dem sich Franziskus kraft Amtes bewegt. Weitgehend unbeachtet sind deshalb die neuartigen Beziehungen geblieben, die der Papst zum Islam geknüpft hat, und insbesondere jenes „Dokument der Brüderlichkeit“, das er im Februar 2019 zusammen mit dem Großimam der Al-Azhar-Universität in Kairo unterzeichnet hat, mit Ahmad al-Tayyeb.

Dieses Dokument bildet nun den Rahmen der neuen Enzyklika und stellt ihren tieferen Sinn dar. „Fratelli tutti“ ist, leicht zugespitzt gesagt, das erste katholisch-päpstliche Lehrschreiben, das gemeinsam mit der angesehensten Lehrautorität des sunnitischen Islam entstanden ist, vierhändig gewissermaßen. Damit verbünden sich die beiden mitgliederstärksten Religionen der Erde – jedenfalls der ideellen Selbstverpflichtung nach – zu einer Kultur des Dialogs. Die Tatsache aber, dass die Wörter „Islam“ oder „muslimisch“ in der Enzyklika nicht auftauchen (im Ursprungsdokument fehlen auch noch „Christentum“ und „christlich“), weist darauf hin, dass der Appell viel weiter geht. Er richtet sich an jeden: an politisch oder wirtschaftlich Verantwortliche genauso wie – einige Passagen ließen sich gar mit der Überschrift versehen: „Wir sind das Volk“ – an alle Menschen, die an ihren Orten für „Geschwisterlichkeit“ und eine bessere Welt kämpfen sollen.

Gegen die Wegwerf-Kultur

Oder gleich für eine andere. Zuletzt hat Papst Franziskus immer wieder verlangt, die Gesellschaft solle nicht meinen, sie könnte „nach Covid-19 zur so genannten Normalität zurückkehren“, denn diese Normalität sei ja schon vor der Pandemie krank gewesen „an den großen menschlichen und sozio-ökonomischen Viren“; Corona habe das nur grell aufscheinen lassen. So bekräftigt Franziskus im größten Teil der Enzyklika auch die Lehren, die er seit seinem Amtsantritt vorträgt: gegen eine Wirtschaft, die von Finanzspekulation, Gewinnsucht und „Konsum-Individualismus“ getrieben sei und alles, was dagegenstehe, ausgrenze, ja sogar „wegwirft“, auch Menschen. Da gingen nun „keine schnellen Gelegenheitslösungen, kein Zusammenflicken mehr“; da brauche es „eine neue Weltordnung“, eine „globale Ethik der Solidarität, der Liebe“ und – aus dieser Formulierung spricht schon Franziskus‘ ganze Skepsis – eine „gesunde Politik.“

Gefährliche Gewöhnung

Abgesehen vom „Brüderlichkeits“- Rahmen liest sich die neue Enzyklika aber wie eine brave Zettelkasten-Arbeit. Sie versammelt Franziskus-Zitate aus nunmehr sieben Jahren Amtszeit, und als Splitter in allzu großer Wortmasse geht vieles unter, was dieser Papst schon ungleich wuchtiger, beschwörender formuliert hat, etwa in seiner Programmschrift „Evangelii Gaudium“ von 2013 und in seinem zur „Umwelt-Enzyklika“ verniedlichten Warnruf „Laudato Si‘“ von 2015 mit den Frontalangriffen auf die Weltordnung von heute: „Diese Wirtschaft tötet!“

Die Wiederholung rechtfertigt Franziskus damit, dass „noch immer keine Lehren gezogen“ seien. Deshalb hat er den Kreis geweitet, den Welt-Islam ins Boot geholt, zu einem endlich alle Grenzen überschreitenden Aufbruch. In der Tat herrscht kein resignativer Ton in „Fratelli tutti“. Dieser Papst will schon noch weiter. Beim Lesen aber kann man sich eines gewissen Franziskus-Gewöhnungseffekts nicht erwehren. Und es besteht die Gefahr, dass „Fratelli tutti“ noch schneller zur Seite gelegt wird als alle bisherigen Welt-Appelle dieses Papstes. Leider.