Katholiken im Kreis Esslingen loben den verstorbenen Papst Franziskus für seine christliche Menschenliebe. Aber sie bedauern, dass er keinen seiner Reformansätze umgesetzt hat. Befürchtet wird, dass in der Kirche manche Räder zurückgedreht werden.
In die Trauer mischt sich Zukunftsskepsis: Mit Papst Franziskus verbinden engagierte Katholikinnen und Katholiken im Dekanat Esslingen-Nürtingen eine Kirche der Öffnung, eine Kirche im Aufbruch, auch wenn noch kein Ziel wirklich erreicht wurde. Nach Franziskus’ Tod zeigen die Wegweiser in entgegengesetzte Richtungen: weiter auf der Reformspur oder zurück zu einem dogmatisch konservativen Katholizismus.
Außer Frage steht, dass der verstorbene Papst das Christentum aus seiner „Kernbotschaft“ heraus verstand, „der Liebe Gottes zu allen Menschen“, wie Jürgen Kulle, Vorsitzender des Gesamtkirchengemeinderats Filderstadt, formuliert. „Soziale Ungerechtigkeit aufzeigen, Hierarchien und Missbrauch anprangern, sich auf die Seite der Schwachen und Ausgebeuteten stellen: Das hat Papst Franziskus glaubwürdig vertreten.“ Aber: „Wiewohl er einige Missstände bei der Vatikanbank und bei der Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs aufräumen konnte, hat er grundsätzlich angedachte Reformen nicht umgesetzt.“
Unerledigte Themen: Weihe von Frauen, Zölibat und vieles mehr
Es sind die Themen, die die Kirche seit langem vor sich her wälzt – und die auch die Esslinger Katholiken bewegen: Zulassung von Frauen zum Priesteramt, Beteiligung der Laien, Zölibat, Abendmahlsgemeinschaft mit evangelischen Christen und einiges mehr. Johannes Warmbrunn, in Esslingen lebender Sprecher des Diözesanrats, erhofft sich deshalb vom künftigen Papst, der „umfassenden Liebe Gottes zu seiner Schöpfung und jedem Menschen, bei der nichts und niemand ausgeschlossen ist, gerecht zu werden“. Regeln, die dem nicht entsprechen, könne der nächste Stellvertreter Christi „über Bord werfen“. Zu befürchten sei aber, „dass die Weite im Denken von Papst Franziskus wieder aufgegeben wird“.
Auch Marlene Schiebel, Gemeindereferentin in Leinfelden-Echterdingen, wünscht sich indessen „einen Papst mit viel Mut und großem Durchsetzungsvermögen. Ein wichtiger Punkt ist für mich die Gleichstellung von Frauen und Männern, die sich auch in den Weiheämtern auswirken muss.“
Als „Leuchtfeuer der Hoffnung und Liebe“ lobt Charles Unaeze, der Pfarrer der italienischen Gemeinde Esslingen, den Papst, den er am 11. November 2021 persönlich kennenlernte. „Sein Leben und Wirken prägen mich bis heute und stärken meinen Entschluss, mich mit ganzer Kraft für die Armen und Benachteiligten einzusetzen.“ Mit seinem „unerschütterlichen Engagement für soziale Gerechtigkeit, Inklusion und Barmherzigkeit“ habe Franziskus „eine oft gespaltene Welt inspiriert und an die verwandelnde Kraft von Demut und Güte erinnert. Er verstand das Leid der Migranten, der Versklavten in ihren vielfältigen Lebensrealitäten und der weniger Privilegierten.“
Furcht vor „Rückwärtswendung“
Anke Rohfleisch, stellvertretende Vorsitzende des Dekanatsrats, sagt jedoch: „Da in der Weltkirche viele deutlich konservativer sind als wir in Europa, fürchte ich, dass ein konservativer Vertreter zum Papst gewählt wird. Die Hoffnung bleibt, dass die neuen Dialogformen nicht zurückgedreht werden können – zumal unsere Gemeinden hier bereits so viel offener und weiter fortgeschritten sind als die im Vatikan.“ Dass dort künftig ein „schwacher Papst“ sich nicht durchsetzen kann gegen „Zentralisierungstendenzen der Kurie“, eine „Rückwärtswendung zu rein kirchenrechtlichen und liturgischen Themen“ ist für Jürgen Kulle das pessimistische Szenario.
Starker Papst, schwacher Papst? Franziskus war aus Esslinger Katholikensicht beides. Stark in seiner „klaren Haltung“, seinem „bescheidenen Auftreten“, sagt Johannes Warmbrunn. Emanuel Gebauer, dem Leiter der Katholischen Erwachsenenbildung im Kreis Esslingen, hat sich ein Bild solch christlich-humaner Stärke „in die Netzhaut gebrannt: Franziskus feiert einsam und verloren auf dem menschenleeren Petersplatz mitten im Corona-Lockdown den Ostermorgen 2020.“ Ein Bild der Empathie, das die Situation aller ausdrückte: „um das elementar Menschliche gebracht, das Zusammensein“. Bei „Priestern im Papstalter“, so Gebauer, habe sich „lange geübte Gewohnheit bisweilen als Typ verfestigt: der Gelehrte oder der Technokrat oder der Seelsorger.“ Nach dem „ewigen Theologieprofessor Ratzinger, bei dem jedes Wort wie ein Dogma wirkte“, sei Jorge Mario Bergoglio alias Franziskus „immer der Typ Seelsorger“ mit viel Spontaneität, Humor und Nächstenliebe geblieben. „Das Zeichensetzen war seine Stärke.“ Für Josef Maier, Mitglied im Dekanatsrat, war Franziskus „der erste Papst, welcher sein Amt nicht wie ein König auf seinem Thron ausgeübt hat, sondern als Nachfolger Christi: Mache es wie Gott und werde Mensch.“
Volker Weber, Dekan des Dekanats Esslingen-Nürtingen, sieht „das Thema soziale Gerechtigkeit“, den interreligiösen Dialog und die Anstöße zu Umweltschutz und Verantwortung für die Schöpfung mit der Enzyklika „Laudato si’“ als Stärken des „franziskanischen“ Pontifikats. Als neuen Papst erhofft sich Weber einen „Mann mit Charisma“ und „offener Art, der die von Franziskus eingeleiteten Reformen fortsetzt“. Dessen Versuche seien „unvollendet“ geblieben.
Diesen Punkt werten die Statements als Schwäche des verstorbenen Papstes. Dekanatsratsmitglied Michael Medla bringt den Zwiespalt trotz aller Sympathie für den undogmatischen Pontifex auf den Punkt: „Papst Franziskus verkörperte für mich eine karitative und schöpfungsfreundliche Kirche. Leider ist er nur erste Schritte zu einer stärkeren Rolle von Frauen in der Kirche gegangen.“ Bei Anke Rohfleisch klingt einige Enttäuschung mit: „Letztlich ist er dann doch vor großen Reformen in der katholischen Kirche zurückgeschreckt.“ Bleibt, trotz aller Skepsis, die Hoffnung – eine der sieben christlichen Haupttugenden.