Mehr als 100 Jahre nach der Erfindung des Warenhauses fragen sich die Einzelhandelsexperten, ob es überhaupt noch eine Zukunft­ hat. Foto: dpa-Zentralbild

Das Warenhaus war einst ein viel bestaunter Konsumtempel. In den Zeiten von Amazon, Zalando und den Markenstores in den Innenstädten ist es vom Aussterben bedroht. Denn junge Menschen gehen nicht mehr in Warenhäusern einkaufen.

Stuttgart - Verführung ist, Bedürfnisse zu schaffen, die vorher gar nicht da waren. Das war viele Jahre lang die Basis des Geschäftsmodells der Warenhäuser. „Wir waren die Könige damals“, sagt Gerhard Sauter. 1956 hat er als stellvertretender Abteilungsleiter bei Hertie in München angefangen. „Wir hätten den Menschen damals Elchfutter verkaufen können, obwohl sie gar keinen Elch zu Hause haben“, sagt er. Sauter wird im September 80. Bis 1996 hat er in verschiedenen Hertie-Häusern gearbeitet, zuletzt als Verkaufsdirektor für Süddeutschland. Er hat die Blüte des Warenhauses erlebt – und seinen Verfall. Denn mehr als 100 Jahre nach der Erfindung des Warenhauses fragen sich die Einzelhandelsexperten, ob es überhaupt noch eine Zukunft hat.

Ihre These lautet: Ein Überleben ist nur möglich, wenn man wieder lernt, wie Verführung funktioniert. „Wenn es den Warenhausbetreibern gelingt, den alten Glanz wiederherzustellen und das Einkaufen zu einem sinnlichen Erlebnis zu machen, hat das Modell eine Zukunft“, sagt der Warenhausexperte Gerd Hessert. „Von den heute rund 190 Häusern in Deutschland werden am Ende wohl noch gut 70 Standorte übrig bleiben.“ Das Warenhaus ist in der Krise, weil die Umsätze seit Jahren zurückgehen. Doch es ist auch kampferprobt. Die ersten Warenhäuser wurden um 1900 in Frankreich, den USA und England eröffnet. „Damals hieß es, dass es in den Warenhäusern alles gibt, von Särgen bis zu Bräuten“, sagt Thomas Lenz, Soziologe an der Universität Luxemburg. Noch heute gilt als Warenhaus ein Einkaufszentrum, in dem es über mehrere Stockwerke verteilt Waren aus vielen verschiedenen Branchen gibt. Dagegen deckt ein Kaufhaus auf einer ähnlich großen Verkaufsfläche nur eine begrenzte Branchenvielfalt ab.

Als das erste Warenhaus in der Geschichte gilt Le Bon Marché, das 1838 in Paris eröffnet wurde. Der französische Autor Émile Zola widmete dem Konsumtempel den Roman „Das Paradies der Damen“ und beschreibt das Warenhaus darin als einen Palast des Konsumrausches, der die Menschen durch die aufwendige Präsentation der Produkte in den Bann zieht – und die Konsumgüter künstlich mit Sinn auflädt.

Warenhäuser des 20. Jahrhundert als Sehnsuchtsorte

Mit den ersten Warenhäusern zogen neuartige Geschäftspraktiken in den Einzelhandel ein. In den Warenpalästen gab es beispielsweise zum ersten Mal feste Preise, Barzahlung oder die Möglichkeit des Umtauschens. Auch die Architektur revolutionierte die Branche. „Die Architekten bauten die Warenhäuser der Jahrhundertwende überwiegend als Eisenkonstruktionen, deren Fronten verglast waren“, sagt Lenz. Die Warenhäuser des 20. Jahrhundert waren Sehnsuchtsorte. „Es war wie ein Museum für Tagträume“, so Lenz. „Dort wurden Güter ausgestellt, die den Menschen einen Eindruck davon gaben, was für ein Leben möglich und erstrebenswert ist“, so Lenz. Er beschreibt die Warenhäuser der ersten Stunde als symbolische Räume der Moderne, „die einerseits wegen ihrer technischen und architektonischen Raffinesse bewundert wurden, deren gesellschaftliche Auswirkungen andererseits aber gefürchtet wurden.“

So bekam etwa der Begriff Mittelstand Popularität durch einen Zusammenschluss von Händlern, die sich gegen die Warenhäuser formierten. „Sie fühlten sich durch die neue Vertriebsform in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht“, sagt Lenz. Dabei betrug der Umsatz der Warenhäuser noch 1913 lediglich 2,5 Prozent am gesamten Einzelhandelsumsatz.

In Deutschland haben sich die Konsumpaläste eher in der Provinz entwickelt. Eines der ersten Warenhäuser wurde etwa von dem jüdischen Kaufmann Leonhard Tietz in Stralsund eröffnet. „Da viele Warenhäuser von jüdischen Kaufleuten betrieben wurden, waren die Argumente gegen die Vertriebsform oft antisemitische, antikapitalistische und kulturpessimistische Propaganda“, so Lenz. Vor diesem Hintergrund sei auch der Spruch zu verstehen, dass es in den Warenhäusern „von Särgen bis zu Bräuten“ alles gebe.

„Die Verkäuferinnen haben damals extrem wenig verdient“, sagt Lenz. Die Menschen warfen den Frauen vor, sie würden ihr Gehalt nach Feierabend durch Prostitution aufbessern, um über die Runden zu kommen.

„Es war eine großartige Zeit“

Der Wissenschafter vermutet hinter diesem Vorwurf jedoch eine Verunsicherung der Männerwelt, weil in den Kaufhäusern zum ersten Mal in nennenswerten Umfang Arbeitsplätze für Frauen geschaffen wurden. „Außerdem boten die Warenhäusern Frauen einen Ort, an dem sie sich unabhängig von ihren Männern treffen konnten.“

Die Vertriebsform etablierte sich trotz aller Widerstände und erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt. Von 1950 bis 1957 stieg der Anteil der Erlöse der Warenhäuser am gesamten Einzelhandelsumsatz von 7,7 auf 12,4 Prozent. Den Markt beherrschten damals die fünf großen Warenhauskonzerne Karstadt (Gründung: 1881), Kaufhof (1879), Hertie (1882), Horten (1936) und Quelle (1927).

„Es war eine großartige Zeit“, sagt Gerhard Sauter. Er war in den 60er Jahren bei Hertie im Einkauf tätig. „Wir hatten damals die maximale Freiheit“, sagt er. Die Direktoren haben die Einkäufer an der langen Leine gelassen: „Denn alles, was wir besorgt haben, wurde verkauft.“

Ständig Negativschlagzeilen über Karstadt

Doch die goldene Zeit für die Warenhäuser gehört heute längst der Vergangenheit an. Von den fünf großen klassischen Kaufhausunternehmen in Deutschland sind heute nur noch Karstadt und Galeria Kaufhof übrig. Und spätestens seit Karstadt 2009 mit seinem Mutterkonzern Arcandor in die Insolvenz geschlittert ist, taucht immer häufiger die Frage auf, ob die Vertriebsform überhaupt noch eine Zukunft hat.

Karstadt betreibt heute noch 83 Warenhäuser, von denen einige wegen schlechter Zahlen auf dem Prüfstand stehen. Der Umsatz ist nach Angaben des Handelsforschungsinstituts EHI zwischen 2004 und 2013 (30. September) von 4,9 auf rund 2,7 Milliarden Euro gesunken. In den Häusern herrscht ein enormer Investitionsstau, der nun durch die Übernahme des Österreichischen Investors René Benko gelindert werden soll. 2013 hatte Berggruen zunächst die Mehrheit der Filetstücke des Karstadt-Konzerns für 300 Millionen Euro an Benko verkauft: Die Karstadt-Sport- und Premium-Häuser gingen für je 75,1 Prozent an dessen Signa Holding. 150 Millionen Euro soll in die Warenhäuser investiert werden. Im August 2014 dann übernahm Benko auch die übrigen Warenhäuser von Berggruen.

Zum Vergleich: Der Wettbewerber Galeria Kaufhof investiert nach eigenen Angaben jedes Jahr 100 Millionen Euro – unter anderem in die Filialen. Das Modell Warenhaus habe eine gute Zukunft, sagt ein Sprecher. Das Unternehmen des Metro-Konzerns betreibt deutschlandweit 105 Warenhäuser und 17 Sporthäuser sowie 15 Warenhäuser in Belgien. „Galeria Kaufhof schreibt seit Jahrzehnten schwarze Zahlen“, sagt der Sprecher. Aber auch dort sind die Umsätze seit 2000 von 3,9 Milliarden Euro um rund eine Milliarde gesunken.

Discounter als Konkurrenz

Die Schwierigkeiten der Warenhäuser setzten ein, als die ersten Discounter und Versandhäuser zur Konkurrenz wurden. Die ersten Billigketten kamen in den frühen 1960er Jahren auf. 1980 eröffnete in Hamburg die erste Filiale der schwedischen Textilkette Hennes und Mauritz (H&M) gefolgt vom spanischen Wettbewerber Zara 1999.

Die Discounter und die eigenen Läden der – preiswerten – Textilketten machten den Warenhäusern zunehmend zu schaffen. Zwischen 2000 und 2014 hat sich der Anteil der Warenhäuser am Einzelhandelsumsatz von 4,2 auf 2,2 Prozent verringert und liegt damit wieder etwa bei dem von vor 100 Jahren.

„Die Warenhäuser haben immer versucht, den sinkenden Erträgen hinterherzusparen, statt eigene neue Strategien zu entwickeln“, sagt Gerd Hessert. Dementsprechend unvorbereitet traf viele Warenhausunternehmen der Siegeszug des Online-Handels.

Noch viele Häuser schließen laut Experten

Seit 2005 ist der Umsatz im Online-Handel um fast 167 Prozent gestiegen. Nach Angaben des Handelsverbands macht der sogenannte E-Commerce heute mit einem Volumen von 38,7 Milliarden Euro fast neun Prozent am gesamten Einzelhandelsumsatz aus.

„Ich glaube trotzdem, dass die Vertriebsform Warenhaus eine Zukunft hat“, sagt Hessert. Er geht jedoch davon aus, dass in Zukunft noch viele Häuser schließen werden. Insbesondere in kleineren Städten. In einer Analyse aller deutschen Warenhaus-Standorte kommt er zu dem Schluss, dass nur rund 70 bis 80 Warenhäuser über Zukunftschancen verfügen.

Hessert glaubt, dass es nur an den riesigen Standorten mit Verkaufsflächen von bis zu 30.000 Quadratmetern gelingen wird, neuartige Warenwelten und Treffpunkte zu inszenieren, die das Einkaufen im Warenhaus wieder zu einem sinnlichen Erlebnis machen – und die Bedürfnisse schaffen, die vorher gar nicht da waren.